De legibus senatusque consultis et longa consuetudine
(Von den Gesetzen, den Senatsbeschlüssen und dem Gewohnheitsrechte.)
1Papinian. lib. I. Definition. Gesetz ist so viel, als eine allgemeine Vorschrift, ein Beschluss der Weisen, ein Zügel der Verbrechen, welche mit freiem Willen oder aus Unverstand begangen werden, eine allgemeine Angelobung der Staatsgesellschaft [zum Gehorsam].
2Marcian. lib. I. Instit. Auch der Redner Demosthenes bestimmt so den Begriff: „Gesetz ist dasjenige, dem Jeder, sowohl aus vielen andern Gründen als hauptsächlich darum gehorchen muss, weil jedes Gesetz eine Erfindung und Gabe Gottes, ein Beschluss der Weisen, ein Zügel dessen, was freiwillig, oder unfreiwillig verbrochen wird, und eine gemeinsame Angelobung der Staatsgesellschaft ist, nach welcher alle Staatsmitglieder handeln müssen.“ Auch der Philosoph der erhabensten stoischen Weisheit, Chrysippus, beginnt sein Buch, welches er über das Gesetz schrieb, folgendermaassen: „Das Gesetz ist der Beherrscher aller göttlichen und menschlichen Angelegenheiten; es soll der Hort des Guten und des Bösen, der Herrscher und Führer sein; daher die Richtschnur des Gerechten und des Ungerechten, und für die von der Natur zu Staatsbürgern bestimmten Geschöpfe ein Gebot dessen, was sie thun, und ein Verbot dessen, was sie unterlassen sollen.“
5Id. lib. XVII. Dig. Denn das Recht muss dem, was häufig und leicht geschieht, angepasst werden, nicht dem, was sehr selten eintritt.
6Paul. lib. XVII. ad Plautium. Denn was einmal oder zweimal geschieht, darauf, sagt Theophrastus, nimmt der Gesetzgeber keine Rücksicht.
12Id. lib. XV. Dig. Es können nicht [für] alle besondern Fälle [ausdrückliche Bestimmungen] den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen einverleibt werden; sondern, wenn in Betreff eines Umstandes der Ausspruch derselben klar ist, so kann derjenige, welcher der Gerichtsbarkeit vorsteht, davon auf ähnliche Anwendung machen, und darnach Recht sprechen.
13Ulp. lib. I. ad Ed. Aedil. currul. Denn sobald, sagt Pedius, durch ein Gesetz das eine oder das andere eingeführt worden ist, ist eine gute Gelegenheit vorhanden, das übrige, was denselben Nutzen bezweckt; entweder durch die Auslegung, oder wenigsten durch die Gerichtsbarkeit zu ergänzen.
15Julian. lib. XXVII. Dig. Dasjenige, was wider die Regel des gemeinen Rechts bestimmt worden ist, kann man nicht als Rechtsregel befolgen.
16Paul. lib. singul. de jure singul. Ein besonderes Recht ist dasjenige, welches gegen den strengen Inhalt der gemeinen Rechtsregel, der Nützlichkeit wegen, durch die Auctorität der Gesetzgeber eingeführt worden ist.
17Celsus lib. XXVI. Dig. Die Gesetze verstehen, heisst nicht, deren Worte im Gedächtnisse haben, sondern ihren Sinn und ihren Zweck.
18Id. lib. XXIX. Dig. Die Gesetze müssen weniger nach der Strenge der Worte ausgelegt werden, damit ihr Wille aufrecht erhalten werde.
19Id. lib. XXXIII. Dig. Spricht sich ein Gesetz zweideutig aus, so ist diejenige Bedeutung vorzuziehen, welche dem Gegenstande am meisten entspricht22Vitio caret, s. Glück I. p. 229. n. 30., besonders wenn daraus auch der Wille des Gesetzes abgenommen werden kann.
21Neratius lib. VI. Membranar. Darum muss man nicht nach dem Grunde dessen, was bestimmt worden, forschen, denn sonst würde vieles von dem, was feststeht, umgestossen werden.
22Ulp. lib. XXXV. ad Ed. Wenn ein Gesetz etwas für die Vergangenheit nachlässt, so verbietet es dasselbe für die Zukunft.
25Modestin. lib. VIII. Respons. Kein Rechtsgrund oder billige Nachsicht gestattet, dass wir dasjenige, was zum Heil und Besten der Menschen eingeführt worden, durch eine härtere Auslegung wider deren Nutzen bis zur Strenge treiben.
27Tertullian. lib. I. Quaest. Weil es daher gebräuchlich ist, dass ältere Gesetze auf spätere bezogen werden, so muss man auch stets annehmen, als liege in den Gesetzen die Bestimmung, dass sie auch auf solche Personen und solche Sachen gehen sollen, die dereinst [den jetzigen] ähnliche sein werden.
28Paul. lib. V. ad Leg. Jul. et Pap. Auch spätere Gesetze beziehen sich, wenn sie ihnen nicht entgegen sind, auf frühere; dies wird durch viele Beispiele bestätigt.
29Id. lib. singul. ad Leg. Cinciam. Dem Gesetze zuwider handelt derjenige, welcher etwas thut, was das Gesetz verbietet; Umgehung des Gesetzes aber begeht derjenige, welche, ohne dessen Worten zu nahe zu treten, sich dem Sinn desselben entzieht.
30Ulp. lib. IV. ad Ed. Denn Umgehung des Gesetzes findet dann Statt, wenn etwas geschieht, was dasselbe nicht gewollt hat, dass es geschehen soll, ohne es aber verboten zu haben; ebenso wie ῥητὸν ἀπὸ διανοίας (die Rede vom Sinn) verschieden ist, so unterscheidet sich die Umgehung vom Entgegenhandeln des Gesetzes.
31Id. lib. XIII. ad leg. Jul. et Pap. Der Kaiser steht über dem Gesetz; die Kaiserin steht zwar unter dem Gesetz, allein es pflegen ihr die Kaiser gewöhnlich auch die Vorrechte zu ertheilen, deren sie selbst geniessen.
32Julian lib. XCIV. Dig. Ueber diejenigen Angelegenheiten, wo wir keine geschriebenen Gesetze haben, muss das befolgt werden, was durch Sitte und Gewohnheit eingeführt worden, und wenn dergleichen über einen Gegenstand nicht vorhanden ist, dasjenige, was zunächst liegt und die Analogie von ähnlichen Fällen [ergiebt]; lässt sich auch hieraus nichts entnehmen, so muss die Gewohnheit33Jus = consuetudo, Glosse. der Stadt Rom befolgt werden. 1Alte eingewurzelte Gewohnheit wird mit Recht als Gesetz befolgt, und was durch das Herkommen begründet ist, das ist Recht. Denn wenn uns die Gesetze selbst aus keinem andern Grunde binden, als weil sie durch den ausgesprochenen Willen des Volkes angenommen worden sind, so bindet auch mit Recht dasjenige einen Jeden, was das Volk ohne alle Schrift gut geheissen hat; denn was liegt daran, ob das Volk seinen Willen durch Abstimmung erklärt, oder durch die Sache und durch die That selbst? — Mit vollem Recht ist daher auch als Regel angenommen worden, dass Gesetze nicht blos durch den ausgesprochenen Willen des Gesetzgebers, sondern auch in Folge einer allgemeinen stillschweigenden Uebereinstimmung durch Nichtgebrauch aufgehoben werden können.
33Ulp. lib. I. de officio Procons. Langjährige Gewohnheit pflegt in denjenigen Fällen als Recht und Gesetz beobachtet zu werden, worüber nichts Geschriebenes vorhanden ist.
34Ad Dig. 1,3,34Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl. 1891, Bd. I, § 17, Note 1.Id. lib. IV. de off. Procons. Wenn sich Jemand auf die Gewohnheit einer Stadt oder einer Provinz stützt44Confidere videtur. s. Brisson h. v., so muss man, nach meinem Dafürhalten, vor allen darnach forschen, ob die Gewohnheit auch in einem Rechtsstreit, wo deshalb Widerspruch erhoben worden, bestätigt worden ist.
35Hermogenian. lib. I. Jur. Epitom. Was durch lange Gewohnheit gebilligt, und viele Jahre hindurch beobachtet worden ist, wird als eine stillschweigende Uebereinkunft der Bürger, ebensowohl, wie geschriebene Rechte, gehalten.
38Callistrat. lib. I. Quaest. Denn unser Kaiser Severus rescribierte, dass bei den aus dem Gesetz entstandenen Zweideutigkeiten, die Gewohnheit oder die Auctorität stets ähnlich entschiedener Fälle Gesetzeskraft haben solle.
39Ad Dig. 1,3,39Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl. 1891, Bd. I, § 16, Note 3.Cels. lib. XXIII. Dig. Was nicht aus einem Vernunftgrunde, sondern ursprünglich aus einem Irrthum eingeführt, nachher aber durch Gewohnheit beibehalten worden ist, gilt in andern ähnlichen Fällen nicht.
41Ulp. lib. II. Instit. Das gesammte Recht beschäftigt sich aber entweder mit Erwerben, mit Erhalten, oder mit Vermindern; denn es kommt entweder darauf an, auf welche Weise Jemandem etwas zu Theil werde, oder auf welche Weise er seine Sache oder sein Recht erhalte, oder wie er es veräussere oder verliere.