Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Erstes Buch übersetzt von Sintenis
Dig. I3,
De legibus senatusque consultis et longa consuetudine
Liber primus
III.

De legibus senatusque consultis et longa consuetudine

(Von den Gesetzen, den Senatsbeschlüssen und dem Gewohnheitsrechte.)

1Pa­pi­nia­nus li­bro pri­mo de­fi­ni­tio­num. Lex est com­mu­ne prae­cep­tum, vi­ro­rum pru­den­tium con­sul­tum, de­lic­to­rum quae spon­te vel igno­ran­tia con­tra­hun­tur co­er­ci­tio, com­mu­nis rei pu­bli­cae spon­sio.

1Papinian. lib. I. Definition. Gesetz ist so viel, als eine allgemeine Vorschrift, ein Beschluss der Weisen, ein Zügel der Verbrechen, welche mit freiem Willen oder aus Unverstand begangen werden, eine allgemeine Angelobung der Staatsgesellschaft [zum Gehorsam].

2Mar­cia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Nam et De­mos­the­nes ora­tor sic de­fi­nit: τοῦτό ἐστι νόμος, ᾧ πάντας ἀνθρώπους προσήκει πείθεσθαι διὰ πολλά, καὶ μάλιστα ὅτι πᾶς ἐστι νόμος εὕρημα μὲν καὶ δῶρον θεοῦ, δόγμα δὲ ἀνθρώπων φρονίμων, ἐπανόρθωμα δὲ τῶν ἑκουσίων καὶ ἀκουσίων ἁμαρτημάτων, πόλεως δὲ συνθήκη κοινή, καθ’ ἣν ἅπασι προσήκει ζῆν τοῖς ἐν τῇ πόλει. sed et phi­lo­so­phus sum­mae sto­i­cae sa­pien­tiae Chry­sip­pus sic in­ci­pit li­bro, quem fe­cit περὶ νόμου: ὁ νόμος πάντων ἐστὶ βασιλεὺς θείων τε καὶ ἀνθρωπίνων πραγμάτων· δεῖ δὲ αὐτὸν προστάτην τε εἶναι τῶν καλῶν καὶ τῶν αἰσχρῶν καὶ ἄρχοντα καὶ ἡγεμόνα, καὶ κατὰ τοῦτο κανόνα τε εἶναι δικαίων καὶ ἀδίκων καὶ τῶν φύσει πολιτικῶν ζῴων, προστακτικὸν μὲν ὧν ποιητέον, ἀπαγορευτικὸν δὲ ὧν οὐ ποιητέον.

2Marcian. lib. I. Instit. Auch der Redner Demosthenes bestimmt so den Begriff: „Gesetz ist dasjenige, dem Jeder, sowohl aus vielen andern Gründen als hauptsächlich darum gehorchen muss, weil jedes Gesetz eine Erfindung und Gabe Gottes, ein Beschluss der Weisen, ein Zügel dessen, was freiwillig, oder unfreiwillig verbrochen wird, und eine gemeinsame Angelobung der Staatsgesellschaft ist, nach welcher alle Staatsmitglieder handeln müssen.“ Auch der Philosoph der erhabensten stoischen Weisheit, Chrysippus, beginnt sein Buch, welches er über das Gesetz schrieb, folgendermaassen: „Das Gesetz ist der Beherrscher aller göttlichen und menschlichen Angelegenheiten; es soll der Hort des Guten und des Bösen, der Herrscher und Führer sein; daher die Richtschnur des Gerechten und des Ungerechten, und für die von der Natur zu Staatsbürgern bestimmten Geschöpfe ein Gebot dessen, was sie thun, und ein Verbot dessen, was sie unterlassen sollen.“

3Pom­po­nius li­bro vi­cen­si­mo quin­to ad Sa­binum. Iu­ra con­sti­tui opor­tet, ut di­xit Theo­phras­tus, in his, quae ἐπὶ τὸ πλεῖστον ac­ci­dunt, non quae ἐκ παραλόγου.

3Pompon. lib. XXV. ad Sabin. Rechtsbestimmungen müssen, wie Theophrastus sagt, darnach getroffen werden, was der Regel nach, nicht aber darnach, was ausnahmsweise geschieht.

4Cel­sus li­bro quin­to di­ges­to­rum. Ex his, quae for­te uno ali­quo ca­su ac­ci­de­re pos­sunt, iu­ra non con­sti­tuun­tur:

4Celsus lib. V. Digestor. Darauf, was vielleicht in einem einzigen Fall geschehen kann, wird bei Abfassung von Rechtsbestimmungen nicht gesehen.

5Idem li­bro XVII di­ges­to­rum. nam ad ea po­tius de­bet ap­ta­ri ius, quae et fre­quen­ter et fa­ci­le, quam quae per­ra­ro eve­niunt.

5Id. lib. XVII. Dig. Denn das Recht muss dem, was häufig und leicht geschieht, angepasst werden, nicht dem, was sehr selten eintritt.

6Pau­lus li­bro XVII ad Plau­tium. Τὸ γὰρ ἅπαξ ἢ δίς, ut ait Theo­phras­tus, παραβαίνουσιν οἱ νομοθέται.

6Paul. lib. XVII. ad Plautium. Denn was einmal oder zweimal geschieht, darauf, sagt Theophrastus, nimmt der Gesetzgeber keine Rücksicht.

7Mo­des­ti­nus li­bro I re­gu­la­rum. Le­gis vir­tus haec est im­pe­ra­re ve­ta­re per­mit­te­re pu­ni­re.

7Modestin. lib. I. Regul. Der Zweck des Gesetzes ist: befehlen, verbieten, erlauben, strafen.

8Ul­pia­nus li­bro III ad Sa­binum. Iu­ra non in sin­gu­las per­so­nas, sed ge­ne­ra­li­ter con­sti­tuun­tur.

8Ulpian. lib. III. ad Sabin. Rechtsbestimmungen werden nicht für einzelne Personen, sondern im allgemeinen getroffen.

9Idem li­bro XVI ad edic­tum. Non amb­igi­tur se­na­tum ius fa­ce­re pos­se.

9Ulp. lib. XVI. ad Ed. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Senat Rechtsbestimmungen treffen könne.

10Iu­lia­nus li­bro LVIIII di­ges­to­rum. Ne­que le­ges ne­que se­na­tus con­sul­ta ita scri­bi pos­sunt, ut om­nes ca­sus qui quan­do­que in­ci­de­rint com­pre­hen­dan­tur, sed suf­fi­cit ea quae ple­rum­que ac­ci­dunt con­ti­ne­ri.

10Julian. lib. LIX. Dig. Weder Gesetze, noch Senatsbeschlüsse können so abgefasst werden, dass sie alle Fälle, die nur irgend jemals eintreten können, begreifen, sondern es genügt, wenn sie das, was meistentheils zu geschehen pflegt, enthalten.

11Idem li­bro LXXXX di­ges­to­rum. Et id­eo de his, quae pri­mo con­sti­tuun­tur, aut in­ter­pre­ta­tio­ne aut con­sti­tu­tio­ne op­ti­mi prin­ci­pis cer­tius sta­tuen­dum est.

11Id. lib. XC. Dig. Deshalb muss darüber, was ursprünglich festgesetzt worden ist, [wenn es nöthig wird,] entweder durch Auslegung, oder Verordnungen des Kaisers etwas näheres bestimmt werden.

12Idem li­bro XV di­ges­to­rum. Non pos­sunt om­nes ar­ti­cu­li sin­gil­la­tim aut le­gi­bus aut se­na­tus con­sul­tis com­pre­hen­di11Die Großausgabe liest com­prae­hen­di statt com­pre­hen­di.: sed cum in ali­qua cau­sa sen­ten­tia eo­rum ma­ni­fes­ta est, is qui iu­ris­dic­tio­ni prae­est ad si­mi­lia pro­ce­de­re at­que ita ius di­ce­re de­bet.

12Id. lib. XV. Dig. Es können nicht [für] alle besondern Fälle [ausdrückliche Bestimmungen] den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen einverleibt werden; sondern, wenn in Betreff eines Umstandes der Ausspruch derselben klar ist, so kann derjenige, welcher der Gerichtsbarkeit vorsteht, davon auf ähnliche Anwendung machen, und darnach Recht sprechen.

13Ul­pia­nus li­bro I ad edic­tum ae­di­lium cu­ru­lium. Nam, ut ait Pe­dius, quo­tiens le­ge ali­quid unum vel al­te­rum in­tro­duc­tum est, bo­na oc­ca­sio est ce­te­ra, quae ten­dunt ad ean­dem uti­li­ta­tem, vel in­ter­pre­ta­tio­ne vel cer­te iu­ris­dic­tio­ne sup­ple­ri.

13Ulp. lib. I. ad Ed. Aedil. currul. Denn sobald, sagt Pedius, durch ein Gesetz das eine oder das andere eingeführt worden ist, ist eine gute Gelegenheit vorhanden, das übrige, was denselben Nutzen bezweckt; entweder durch die Auslegung, oder wenigsten durch die Gerichtsbarkeit zu ergänzen.

14Pau­lus li­bro LIIII ad edic­tum. Quod ve­ro con­tra ra­tio­nem iu­ris re­cep­tum est, non est pro­du­cen­dum ad con­se­quen­tias.

14Paul. lib. LIV. ad Ed. Was aber wider die Regel des gemeinen Rechts11S. Glück I. p. 265. n. 2. angenommen worden ist, darf auf ähnliche Fälle nicht bezogen werden.

15Iu­lia­nus li­bro XXVII di­ges­to­rum. In his, quae con­tra ra­tio­nem iu­ris con­sti­tu­ta sunt, non pos­su­mus se­qui re­gu­lam iu­ris.

15Julian. lib. XXVII. Dig. Dasjenige, was wider die Regel des gemeinen Rechts bestimmt worden ist, kann man nicht als Rechtsregel befolgen.

16Pau­lus li­bro sin­gu­la­ri de iu­re sin­gu­la­ri. Ius sin­gu­la­re est, quod con­tra te­no­rem ra­tio­nis prop­ter ali­quam uti­li­ta­tem auc­to­ri­ta­te con­sti­tuen­tium in­tro­duc­tum est.

16Paul. lib. singul. de jure singul. Ein besonderes Recht ist dasjenige, welches gegen den strengen Inhalt der gemeinen Rechtsregel, der Nützlichkeit wegen, durch die Auctorität der Gesetzgeber eingeführt worden ist.

17Cel­sus li­bro XXVI di­ges­to­rum. Sci­re le­ges non hoc est ver­ba ea­rum te­ne­re, sed vim ac po­tes­ta­tem.

17Celsus lib. XXVI. Dig. Die Gesetze verstehen, heisst nicht, deren Worte im Gedächtnisse haben, sondern ihren Sinn und ihren Zweck.

18Idem li­bro XXVIIII di­ges­to­rum. Be­ni­gnius le­ges in­ter­pre­tan­dae sunt, quo vo­lun­tas ea­rum con­ser­ve­tur.

18Id. lib. XXIX. Dig. Die Gesetze müssen weniger nach der Strenge der Worte ausgelegt werden, damit ihr Wille aufrecht erhalten werde.

19Idem li­bro XXXIII di­ges­to­rum. In amb­igua vo­ce le­gis ea po­tius ac­ci­pien­da est sig­ni­fi­ca­tio, quae vi­tio ca­ret, prae­ser­tim cum et­iam vo­lun­tas le­gis ex hoc col­li­gi pos­sit.

19Id. lib. XXXIII. Dig. Spricht sich ein Gesetz zweideutig aus, so ist diejenige Bedeutung vorzuziehen, welche dem Gegenstande am meisten entspricht22Vitio caret, s. Glück I. p. 229. n. 30., besonders wenn daraus auch der Wille des Gesetzes abgenommen werden kann.

20Iu­lia­nus li­bro quin­qua­gen­si­mo quin­to di­ges­to­rum. Non om­nium, quae a ma­io­ri­bus con­sti­tu­ta sunt, ra­tio red­di pot­est,

20Julian. lib. LV. Dig. Nicht von allem, was von unsern Vorfahren festgesetzt worden, lässt sich der Grund angeben.

21Ne­ra­tius li­bro VI mem­bra­na­rum. et id­eo ra­tio­nes eo­rum, quae con­sti­tuun­tur, in­qui­ri non opor­tet: alio­quin mul­ta ex his quae cer­ta sunt sub­ver­tun­tur.

21Neratius lib. VI. Membranar. Darum muss man nicht nach dem Grunde dessen, was bestimmt worden, forschen, denn sonst würde vieles von dem, was feststeht, umgestossen werden.

22Ul­pia­nus li­bro tri­gen­si­mo quin­to ad edic­tum. Cum lex in prae­ter­itum quid in­dul­get, in fu­tu­rum ve­tat.

22Ulp. lib. XXXV. ad Ed. Wenn ein Gesetz etwas für die Vergangenheit nachlässt, so verbietet es dasselbe für die Zukunft.

23Pau­lus li­bro quar­to ad Plau­tium. Mi­ni­me sunt mu­tan­da, quae in­ter­pre­ta­tio­nem cer­tam sem­per ha­bue­runt.

23Paul. lib. IV. Plaut. Was stets eine bestimmte Auslegung gehabt hat, darf nicht verändert werden.

24Cel­sus li­bro VIIII di­ges­to­rum. In­ci­vi­le est ni­si to­ta le­ge per­spec­ta una ali­qua par­ti­cu­la eius pro­pos­i­ta iu­di­ca­re vel re­spon­de­re.

24Celsus lib. IX. Dig. Es ist unrecht, nach einer vorliegenden einzelnen Stelle eines Gesetzes richten oder ein Gutachten ausstellen zu wollen, ohne die ganzen Gesetze in Betracht gezogen zu haben.

25Mo­des­ti­nus li­bro VIII re­spon­so­rum. Nul­la iu­ris ra­tio aut ae­qui­ta­tis be­ni­gni­tas pa­ti­tur, ut quae sal­u­bri­ter pro uti­li­ta­te ho­mi­num in­tro­du­cun­tur, ea nos du­rio­re in­ter­pre­ta­tio­ne con­tra ip­so­rum com­mo­dum pro­du­ca­mus ad se­ve­ri­ta­tem.

25Modestin. lib. VIII. Respons. Kein Rechtsgrund oder billige Nachsicht gestattet, dass wir dasjenige, was zum Heil und Besten der Menschen eingeführt worden, durch eine härtere Auslegung wider deren Nutzen bis zur Strenge treiben.

26Pau­lus li­bro IIII quaes­tio­num. Non est no­vum, ut prio­res le­ges ad pos­te­rio­res tra­han­tur.

26Paul. lib. IV. Quaest. Es ist nichts neues, dass frühere Gesetze auf spätere bezogen werden.

27Ter­tul­lia­nus li­bro I quaes­tio­num. Id­eo, quia an­ti­quio­res le­ges ad pos­te­rio­res tra­hi usi­ta­tum est, sem­per qua­si hoc le­gi­bus in­es­se cre­di opor­tet, ut ad eas quo­que per­so­nas et ad eas res per­ti­ne­rent, quae quan­do­que si­mi­les erunt.

27Tertullian. lib. I. Quaest. Weil es daher gebräuchlich ist, dass ältere Gesetze auf spätere bezogen werden, so muss man auch stets annehmen, als liege in den Gesetzen die Bestimmung, dass sie auch auf solche Personen und solche Sachen gehen sollen, die dereinst [den jetzigen] ähnliche sein werden.

28Pau­lus li­bro V ad le­gem Iu­liam et Pa­piam. Sed et pos­te­rio­res le­ges ad prio­res per­ti­nent, ni­si con­tra­riae sint, id­que mul­tis ar­gu­men­tis pro­ba­tur.

28Paul. lib. V. ad Leg. Jul. et Pap. Auch spätere Gesetze beziehen sich, wenn sie ihnen nicht entgegen sind, auf frühere; dies wird durch viele Beispiele bestätigt.

29Idem li­bro sin­gu­la­ri ad le­gem Cin­ciam. Con­tra le­gem fa­cit, qui id fa­cit quod lex pro­hi­bet, in frau­dem ve­ro, qui sal­vis ver­bis le­gis sen­ten­tiam eius cir­cum­ve­nit.

29Id. lib. singul. ad Leg. Cinciam. Dem Gesetze zuwider handelt derjenige, welcher etwas thut, was das Gesetz verbietet; Umgehung des Gesetzes aber begeht derjenige, welche, ohne dessen Worten zu nahe zu treten, sich dem Sinn desselben entzieht.

30Ul­pia­nus li­bro IIII ad edic­tum. Fraus enim le­gi fit, ubi quod fie­ri no­luit, fie­ri au­tem non ve­tuit, id fit: et quod di­stat ῥητὸν ἀπὸ διανοίας, hoc di­stat fraus ab eo, quod con­tra le­gem fit.

30Ulp. lib. IV. ad Ed. Denn Umgehung des Gesetzes findet dann Statt, wenn etwas geschieht, was dasselbe nicht gewollt hat, dass es geschehen soll, ohne es aber verboten zu haben; ebenso wie ῥητὸν ἀπὸ διανοίας (die Rede vom Sinn) verschieden ist, so unterscheidet sich die Umgehung vom Entgegenhandeln des Gesetzes.

31Idem li­bro XIII ad le­gem Iu­liam et Pa­piam. Prin­ceps le­gi­bus so­lu­tus est: Au­gus­ta au­tem li­cet le­gi­bus so­lu­ta non est, prin­ci­pes ta­men ea­dem il­li pri­vi­le­gia tri­buunt, quae ip­si ha­bent.

31Id. lib. XIII. ad leg. Jul. et Pap. Der Kaiser steht über dem Gesetz; die Kaiserin steht zwar unter dem Gesetz, allein es pflegen ihr die Kaiser gewöhnlich auch die Vorrechte zu ertheilen, deren sie selbst geniessen.

32Iu­lia­nus li­bro LXXXIIII di­ges­to­rum. De qui­bus cau­sis scrip­tis le­gi­bus non uti­mur, id cus­to­di­ri opor­tet, quod mo­ri­bus et con­sue­tu­di­ne in­duc­tum est: et si qua in re hoc de­fi­ce­ret, tunc quod pro­xi­mum et con­se­quens ei est: si nec id qui­dem ap­pa­reat, tunc ius, quo urbs Ro­ma uti­tur, ser­va­ri opor­tet. 1In­ve­te­ra­ta con­sue­tu­do pro le­ge non im­me­ri­to cus­to­di­tur, et hoc est ius quod di­ci­tur mo­ri­bus con­sti­tu­tum. nam cum ip­sae le­ges nul­la alia ex cau­sa nos te­neant, quam quod iu­di­cio po­pu­li re­cep­tae sunt, me­ri­to et ea, quae si­ne ul­lo scrip­to po­pu­lus pro­ba­vit, te­ne­bunt om­nes: nam quid in­ter­est suf­fra­gio po­pu­lus vo­lun­ta­tem suam de­cla­ret an re­bus ip­sis et fac­tis? qua­re rec­tis­si­me et­iam il­lud re­cep­tum est, ut le­ges non so­lum suf­fra­gio le­gis la­to­ris, sed et­iam ta­ci­to con­sen­su om­nium per de­sue­tu­di­nem ab­ro­gen­tur.

32Julian lib. XCIV. Dig. Ueber diejenigen Angelegenheiten, wo wir keine geschriebenen Gesetze haben, muss das befolgt werden, was durch Sitte und Gewohnheit eingeführt worden, und wenn dergleichen über einen Gegenstand nicht vorhanden ist, dasjenige, was zunächst liegt und die Analogie von ähnlichen Fällen [ergiebt]; lässt sich auch hieraus nichts entnehmen, so muss die Gewohnheit33Jus = consuetudo, Glosse. der Stadt Rom befolgt werden. 1Alte eingewurzelte Gewohnheit wird mit Recht als Gesetz befolgt, und was durch das Herkommen begründet ist, das ist Recht. Denn wenn uns die Gesetze selbst aus keinem andern Grunde binden, als weil sie durch den ausgesprochenen Willen des Volkes angenommen worden sind, so bindet auch mit Recht dasjenige einen Jeden, was das Volk ohne alle Schrift gut geheissen hat; denn was liegt daran, ob das Volk seinen Willen durch Abstimmung erklärt, oder durch die Sache und durch die That selbst? — Mit vollem Recht ist daher auch als Regel angenommen worden, dass Gesetze nicht blos durch den ausgesprochenen Willen des Gesetzgebers, sondern auch in Folge einer allgemeinen stillschweigenden Uebereinstimmung durch Nichtgebrauch aufgehoben werden können.

33Ul­pia­nus li­bro pri­mo de of­fi­cio pro­con­su­lis. Diu­tur­na con­sue­tu­do pro iu­re et le­ge in his quae non ex scrip­to de­scen­dunt ob­ser­va­ri so­let.

33Ulp. lib. I. de officio Procons. Langjährige Gewohnheit pflegt in denjenigen Fällen als Recht und Gesetz beobachtet zu werden, worüber nichts Geschriebenes vorhanden ist.

34Idem li­bro IIII de of­fi­cio pro­con­su­lis. Cum de con­sue­tu­di­ne ci­vi­ta­tis vel pro­vin­ciae con­fi­de­re quis vi­de­tur, pri­mum qui­dem il­lud ex­plo­ran­dum ar­bi­tror, an et­iam con­tra­dic­to ali­quan­do iu­di­cio con­sue­tu­do fir­ma­ta sit.

34Ad Dig. 1,3,34Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl. 1891, Bd. I, § 17, Note 1.Id. lib. IV. de off. Procons. Wenn sich Jemand auf die Gewohnheit einer Stadt oder einer Provinz stützt44Confidere videtur. s. Brisson h. v., so muss man, nach meinem Dafürhalten, vor allen darnach forschen, ob die Gewohnheit auch in einem Rechtsstreit, wo deshalb Widerspruch erhoben worden, bestätigt worden ist.

35Her­mo­ge­nia­nus li­bro I iu­ris epi­to­ma­rum. Sed et ea, quae lon­ga con­sue­tu­di­ne com­pro­ba­ta sunt ac per an­nos plu­ri­mos ob­ser­va­ta, vel­ut ta­ci­ta ci­vium con­ven­tio non mi­nus quam ea quae scrip­ta sunt iu­ra ser­van­tur.

35Hermogenian. lib. I. Jur. Epitom. Was durch lange Gewohnheit gebilligt, und viele Jahre hindurch beobachtet worden ist, wird als eine stillschweigende Uebereinkunft der Bürger, ebensowohl, wie geschriebene Rechte, gehalten.

36Pau­lus li­bro VII ad Sa­binum. Im­mo mag­nae auc­to­ri­ta­tis hoc ius ha­be­tur, quod in tan­tum pro­ba­tum est, ut non fue­rit ne­ces­se scrip­to id com­pre­hen­de­re.

36Paul. lib. VII. ad Sabin. Es wird sogar dieses Recht in grossem Ansehen gehalten, indem man so sehr damit einverstanden gewesen ist, dass es gar nicht nöthig war, es schriftlich aufzusetzen.

37Idem li­bro I quaes­tio­num. Si de in­ter­pre­ta­tio­ne le­gis quae­ra­tur, in pri­mis in­spi­cien­dum est, quo iu­re ci­vi­tas re­tro in eius­mo­di ca­si­bus usa fuis­set: op­ti­ma enim est le­gum in­ter­pres con­sue­tu­do.

37Id. lib. I. Quaest. Wenn es auf die Auslegung eines Gesetzes ankommt, so ist vor allen darauf zu sehen, was früher im Staate in Fällen derselben Art als Recht gehalten worden ist; denn die Gewohnheit ist die beste Auslegerin der Gesetze.

38Cal­lis­tra­tus li­bro I quaes­tio­num. Nam im­pe­ra­tor nos­ter Se­ve­rus re­scrip­sit in amb­igui­ta­ti­bus quae ex le­gi­bus pro­fi­cis­cun­tur con­sue­tu­di­nem aut re­rum per­pe­tuo si­mi­li­ter iu­di­ca­ta­rum auc­to­ri­ta­tem vim le­gis op­ti­ne­re de­be­re.

38Callistrat. lib. I. Quaest. Denn unser Kaiser Severus rescribierte, dass bei den aus dem Gesetz entstandenen Zweideutigkeiten, die Gewohnheit oder die Auctorität stets ähnlich entschiedener Fälle Gesetzeskraft haben solle.

39Cel­sus li­bro XXIII di­ges­to­rum. Quod non ra­tio­ne in­tro­duc­tum, sed er­ro­re pri­mum, de­in­de con­sue­tu­di­ne op­ten­tum est, in aliis si­mi­li­bus non op­ti­net.

39Ad Dig. 1,3,39Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl. 1891, Bd. I, § 16, Note 3.Cels. lib. XXIII. Dig. Was nicht aus einem Vernunftgrunde, sondern ursprünglich aus einem Irrthum eingeführt, nachher aber durch Gewohnheit beibehalten worden ist, gilt in andern ähnlichen Fällen nicht.

40Mo­des­ti­nus li­bro I re­gu­la­rum. Er­go om­ne ius aut con­sen­sus fe­cit aut ne­ces­si­tas con­sti­tuit aut fir­ma­vit con­sue­tu­do.

40Modestin. lib. I. Regular. Das gesammte Recht hat also entweder die [allgemeine] Uebereinstimmung hervorgebracht, oder die Nothwendigkeit begründet, oder die Gewohnheit bestätigt.

41Ul­pia­nus li­bro II in­sti­tu­tio­num. To­tum au­tem ius con­sis­tit11Die Großausgabe liest con­sti­tit statt con­sis­tit. aut in ad­quiren­do aut in con­ser­van­do aut in mi­nuen­do: aut enim hoc agi­tur, quem­ad­mo­dum quid cu­ius­que fiat, aut quem­ad­mo­dum quis rem vel ius suum con­ser­vet, aut quo­mo­do alie­net aut amit­tat.

41Ulp. lib. II. Instit. Das gesammte Recht beschäftigt sich aber entweder mit Erwerben, mit Erhalten, oder mit Vermindern; denn es kommt entweder darauf an, auf welche Weise Jemandem etwas zu Theil werde, oder auf welche Weise er seine Sache oder sein Recht erhalte, oder wie er es veräussere oder verliere.