De iuris et facti ignorantia
(Vom Nichtwissen eines Rechtssatzes oder einer Thatsache.)
1Paul. lib. XLIV. ad Ed. Das Nichtwissen betrifft entweder eine Thatsache oder einen Rechtssatz. 1Denn wenn Jemand nicht weiss, dass der, dessen [hinterlassenes Vermögen ihm] zum Nachlassbesitz angetragen werden kann, gestorben sei, so läuft für ihn die Zeit nicht11Der Prätor hatte nämlich eine Frist bestimmt, in welcher von dem zunächst Berechtigten die bonorum possessio agnoscirt werden musste. S. §. 9. I. de b. p. 3. 9. (10.) War dies nicht geschehen und die Frist abgelaufen, so wurde der Nachlassbesitz dem Nächsten nach jenem angetragen. Eine factische Unwissenheit aber hindert den Ablauf der Frist.. Aber wenn er zwar weiss, dass derselbe verstorben sei, aber nicht weiss, dass ihm der Nachlassbesitz wegen der Nähe des Grades angetragen werden kann, oder [wenn] er weiss, dass er zum Erben eingesetzt sei, aber nicht weiss, dass der Prätor [auch] den eingesetzten Erben den Nachlassbesitz verspricht, so läuft für ihn die Zeit, weil er sich über einen Rechtssatz irrt. Dasselbe findet Satt, wenn der von demselben Vater erzeugte Bruder eines Verstorbenen glaubt, dass ihm die Mutter [in der Beerbung desselben], vorgehe. 2Wenn Jemand, nicht weiss, dass er ein Verwandter sei, so irrt er sich zuweilen in Betreff eines Rechtssatzes, zuweilen in Betreff einer Thatsache; denn wenn er weiss, dass er sowohl frei sei, als auch wer seine Eltern seien, aber nicht weiss, dass er die Rechte der Verwandschaft habe, so irrt er sich in Bezug auf einen Rechtssatz. Aber wenn etwa Jemand ausgesetzt war, und [daher] nicht weiss, wer seine Eltern seien, vielleicht auch Jemandem dient, in der Meinung, dass er ein Sclav sei, so irrt er sich mehr in Bezug auf eine Thatsache, als in Bezug auf einen Rechtssatz. 3Ingleichen wenn Jemand zwar weiss, dass einem Andern der Nachlassbesitz angetragen sei, aber nicht weiss, dass für diesen die Zeit [zur Annahme] des Nachlassbesitzes abgelaufen sei, so irrt er über eine Thatsache. Dasselbe findet Statt, wenn er glaubt, das jener den Nachlassbesitz angenommen habe. Aber, wenn er weiss, dass jener um [den Nachlassbesitz] nicht gebeten habe, und für denselben die Zeit abgelaufen sei, aber nicht weiss, dass ihm [selbst] der Nachlassbesitz dem über das Nachrücken handelnden Capitel [des Edicts] gemäss zustehe, so wird für ihn die Zeit laufen, weil er sich in Betreff eines Rechtssatzes irrt. 4Dasselbe werden wir sagen, wenn ein aufs Ganze eingesetzter Erbe glaubt, dass er vor Eröffnung des Testaments um den Nachlassbesitz nicht bitten könne; wenn er aber nicht weiss, dass ein Testament vorhanden sei, so irrt er sich in Bezug auf eine Thatsache.
3Pompon. lib. III. ad Sabin. Es ist ein sehr grosser Unterschied, ob Jemand von einem Rechtsverhältniss oder einer Handlung eines Andern nichts weiss, oder ob er sein eigenes Recht nicht kennt. 1Aber Cassius berichtet, dass Sabinus geglaubt habe, es sei unter dem Nichtwissen das eines nicht ganz und gar nachlässigen und allzu sorglosen Menschen zu verstehen.
4Idem lib. III. ad Sabin. Man sagt, dass das Nichtwissen eines Rechtssatzes bei der Ersitzung nicht nütze22D. h. schade. Wer also z. B. von einem Mündel ohne Ermächtigung des Vormundes eine Sache kauft, in der Meinung, dass der Mündel allein verkaufen könne, kann die Sache durch Ersitzung nicht erwerben. Vgl. L. 2. §. 15. D. pro emt. 41. 4.; dass aber das Nichtwissen einer Thatsache nütze, ist bekannt.
5Terent. Clem. lib. II. ad leg. Jul. et Pap. Es scheint, dass es sehr unbillig sein würde, wenn Jemandem [vielmehr] das Wissen eines Anderen, als sein eigenes schaden sollte, oder wenn das Nichtwissen des Einen dem Anderen nützen würde.
6Ulp. lib. XVIII. ad leg. Jul. et Pap. Weder ein nachlässiges Nichtwissen desjenigen, der eine Thatsache nicht weiss, ist zu verzeihen, noch eine mühsame Nachforschung zu verlangen; das Wissen ist nämlich so zu beurtheilen, dass weder eine grobe Nachlässigkeit oder eine allzugrosse Sorglosigkeit zur Genüge entschuldigt ist, noch eine Sorgfalt im Ausspüren wie die eines Angebers gefordert wird.
7Papinian. lib. XIX. Quaestion. Das Nichtwissen eines Rechtssatzes nützt denen, welche erwerben wollen, nicht33D. h. schadet. S. die vor. Anm., denen aber, welche das Ihrige fordern, schadet es nicht.
8Idem lib. I. Definit. Der Irrthum über eine Thatsache schadet nicht einmal Männern bei Verlusten und Vortheilen, ein Irrthum über einen Rechtssatz aber nützt nicht einmal Frauen bei Vortheilen; übrigens schadet durchaus Niemandem ein Irrthum über einen Rechtssatz bei [der Abwendung von] bevorstehenden Verlusten des Seinigen.
9Paul. lib. sing. de jur. et facti ignor. Es gilt die Regel, dass zwar das Nichtwissen eines Rechtssatzes einem Jeden schade, das Nichtwissen einer Thatsache aber nicht schade. Wir wollen daher untersuchen, in welchen Fällen sie Statt haben könne, nachdem wir zuvor vorausgeschickt haben, dass es denen, welche jünger als fünfundzwanzig Jahre sind, erlaubt ist, das Recht nicht zu kennen — was man auch von den Frauen in gewissen Fällen wegen der Schwachheit ihres Geschlechts sagt — und darum werden sie da, wo kein Vergehen vorhanden ist, sondern ein Nichtwissen eines Rechtssatzes, nicht verletzt. Aus diesem Grunde kommt man Einem, der jünger als fünfundzwanzig Jahre ist, wenn er einem Haussohn dargeliehen haben wird zu Hülfe, so dass es so angesehen wird, als habe er nicht einem Haussohn dargeliehen. 1Wenn ein Haussohn, der Soldat ist, von seinem Cameraden zum Erben eingesetzt ist und nicht weiss, dass er auch ohne seinen Vater [die Erbschaft] antreten dürfe, so ist es ihm kraft kaiserlicher Constitutionen erlaubt (potest), das Recht nicht zu kennen; und darum läuft ihm der Termin der Antretung nicht. 2Aber das Nichtwissen einer Thatsache schadet Jemandem nur dann nicht, wenn ihm nicht die höchste Nachlässigkeit vorgeworfen werden kann; denn wie, wenn alle in der Stadt wissen sollten, was er allein nicht weiss? Und richtig bestimmt Labeo [dies so], dass man unter dem Wissen weder das eines höchst sorgfältigen, noch das eines ganz nachlässigen, sondern das [Wissen] desjenigen verstehen müsse, der die [fragliche] Sache dadurch, dass er fleissig nachforschte, hätte wissen können. 3Dass aber das Nichtwissen eines Rechtssatzes nichts nütze (schade), glaubt Labeo, sei so zu verstehen, wenn der [Nichtwissende] Gelegenheit, [Belehrung] durch einen Rechtsgelehrten [zu erhalten,] gehabt hätte, oder selbst [Rechts-]Kenntniss habe, so dass [nur] dem, welchem es leicht sei, [das Recht] zu kennen, das Nichtwissen eines Rechtssatzes zum Nachtheil gereiche. Dies ist aber selten anzunehmen44Diese Worte sind auf den ganzen vorhergehenden Satz zu beziehen und der Sinn derselben ist: die von Labeo augestellte Einschränkung der Regel wird selten zur Anwendung kommen. Vgl. Mühlenbruch im Arch. f. civ. Pr. Bd. 2. S. 382 f.. 4Wenn Jemand nicht gewusst hat, dass der Verkäufer Eigenthümer der [verkauften] Sache sei, so gilt die wahre Beschaffenheit der Sache mehr, als die blosse Meinung, und darum wird er, obgleich er glauben sollte, dass er [die Sache] nicht von dem Eigenthümer kaufe, dennoch zum Eigenthümer gemacht, wenn [sie] ihm vom Eigenthümer übergeben wird. 5Wenn Jemand sich, weil er das Recht nicht kannte, des Falcidischen Gesetzes nicht bedient hat, so schadet ihm das, wie ein Schreiben des höchstseligen Pius sagt. Aber auch die Kaiser Severus und Antoninus haben folgendermaassen rescribirt: Was bei Gelegenheit eines Fideicommisses ungeschuldet gegeben worden ist, kann nicht zurückgefordert werden, wenn es nicht aus Irrthum [über eine Thatsache] gezahlt worden ist, deshalb verlangen die Erben des Cargilianus, — welche, als sie dem Testament desselben gemäss zur Anlegung einer Wasserleitung Geld an das Gemeinwesen der Cirtenser gezahlt hatten, die Sicherheitsbestellung, welche gewöhnlich vorzukommen pflegt, dass [nämlich] die Municipalbürger das, was sie mehr genommen hätten, als kraft des Falcidischen Gesetzes erlaubt gewesen wäre, zurückgeben sollten, nicht gefordert haben, sondern nur stipulirt haben, dass jene Summe zu anderen Zwecken nicht verwendet werden sollte, und mit Wissen und Bedacht geduldet haben, dass jenes [ganze] Geld zur Anlegung einer Wasserleitung angewendet wurde, — vergeblich, dass ihnen [Etwas] von dem Gemeinwesen der Cirtenser zurückgegeben werden solle, gleich als ob sie mehr, als was sie schuldig gewesen, gegeben hätten, da beides unbillig sein würde, [sowohl] wenn das Geld, welches zur Anlegung einer Wasserleitung gegeben worden ist, zurückgefordert werden würde, als auch wenn das Gemeinwesen aus seinem eigenen Vermögensbestand, [Etwas] auf ein solches Werk verwenden sollte, welches ganz und gar [nur] fremde Freigebigkeit verherrliche. Wenn sie aber darum ein Recht zur Zurückforderung jenes Geldes zu haben glauben, weil sie aus Unkunde sich der Wohlthat des Falcidischen Gesetzes nicht bedient haben, so mögen sie wissen, dass das Nichtwissen einer Thatsache, nicht das eines Rechtssatzes nütze, und dass man nicht Einfältigen, sondern Irrenden zu Hülfe komme. 6Und wenn gleich in diesem Schreiben nur der Municipalbürger Erwähnung geschieht, so wird doch dasselbe auch in Betreff einer jeden anderen Person beobachtet werden. Man muss aber auch nicht [deshalb], weil [hier] der Fall vorgelegt wird, dass Geld zur Anlegung einer Wasserleitung hinterlassen worden sei, sagen, dass blos in diesem Fall das Recht zur Zurückforderung wegfalle; denn der Anfang der Constitution ist allgemein, er zeigt nämlich, dass wenn ein Fideicommiss nicht aus Irrthum [über eine Thatsache] gezahlt worden sei, das, was nicht geschuldet gewesen ist, nicht zurückgefordert werden könne. Desgleichen ist auch der Satz auf gleiche Weise allgemein, dass die, welche aus Nichtwissen des Rechts sich der Wohlthat des Falcidischen Gesetzes nicht bedient haben, nicht zurückfordern können; so dass man demgemäss sagen kann, dass, wenn auch das Geld, welches durch ein Fideicommiss hinterlassen worden ist, und welches gezahlt worden ist, nicht zu irgend einem Zweck hinterlassen worden ist, und wenngleich es noch nicht verbraucht worden ist, sondern bei dem, dem es gezahlt worden ist, noch vorhanden ist, das Recht zur Zurückforderung wegfalle.