Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Buch 22 übersetzt von Schneider unter Redaction von Otto
Dig. XXII6,
De iuris et facti ignorantia
Liber vicesimus secundus
VI.

De iuris et facti ignorantia

(Vom Nichtwissen eines Rechtssatzes oder einer Thatsache.)

1Pau­lus li­bro qua­dra­ge­si­mo quar­to ad edic­tum. Igno­ran­tia vel fac­ti vel iu­ris est. 1Nam si quis ne­sciat de­ces­sis­se eum, cu­ius bo­no­rum pos­ses­sio de­fer­tur, non ce­dit ei tem­pus: sed si sciat qui­dem de­func­tum es­se co­gna­tum, ne­sciat au­tem pro­xi­mi­ta­tis no­mi­ne bo­no­rum pos­ses­sio­nem si­bi de­fer­ri, aut se sciat scrip­tum he­redem, ne­sciat au­tem quod scrip­tis he­redi­bus bo­no­rum pos­ses­sio­nem prae­tor pro­mit­tit, ce­dit ei tem­pus, quia in iu­re er­rat. idem est, si fra­ter con­san­gui­neus de­func­ti cre­dat ma­trem po­tio­rem es­se. 2Si quis ne­sciat se co­gna­tum es­se, in­ter­dum in iu­re, in­ter­dum in fac­to er­rat. nam si et li­be­rum se es­se et ex qui­bus na­tus sit sciat, iu­ra au­tem co­gna­tio­nis ha­be­re se ne­sciat, in iu­re er­rat: at si quis (for­te ex­po­si­tus) quo­rum pa­ren­tium es­set igno­ret, for­tas­se et ser­viat ali­cui pu­tans se ser­vum es­se, in fac­to ma­gis quam in iu­re er­rat. 3Item si quis sciat qui­dem alii de­la­tam es­se bo­no­rum pos­ses­sio­nem, ne­sciat au­tem ei tem­pus prae­ter­is­se bo­no­rum pos­ses­sio­nis, in fac­to er­rat. idem est, si pu­tet eum bo­no­rum pos­ses­sio­nem ac­ce­pis­se. sed si sciat eum non pe­tis­se tem­pus­que ei prae­ter­is­se, igno­ret au­tem si­bi ex suc­ces­so­rio ca­pi­te com­pe­te­re bo­no­rum pos­ses­sio­nem, ce­det ei tem­pus, quia in iu­re er­rat. 4Idem di­ce­mus, si ex as­se he­res in­sti­tu­tus non pu­tet se bo­no­rum pos­ses­sio­nem pe­te­re pos­se an­te aper­tas ta­bu­las: quod si ne­sciat es­se ta­bu­las, in fac­to er­rat.

1Paul. lib. XLIV. ad Ed. Das Nichtwissen betrifft entweder eine Thatsache oder einen Rechtssatz. 1Denn wenn Jemand nicht weiss, dass der, dessen [hinterlassenes Vermögen ihm] zum Nachlassbesitz angetragen werden kann, gestorben sei, so läuft für ihn die Zeit nicht11Der Prätor hatte nämlich eine Frist bestimmt, in welcher von dem zunächst Berechtigten die bonorum possessio agnoscirt werden musste. S. §. 9. I. de b. p. 3. 9. (10.) War dies nicht geschehen und die Frist abgelaufen, so wurde der Nachlassbesitz dem Nächsten nach jenem angetragen. Eine factische Unwissenheit aber hindert den Ablauf der Frist.. Aber wenn er zwar weiss, dass derselbe verstorben sei, aber nicht weiss, dass ihm der Nachlassbesitz wegen der Nähe des Grades angetragen werden kann, oder [wenn] er weiss, dass er zum Erben eingesetzt sei, aber nicht weiss, dass der Prätor [auch] den eingesetzten Erben den Nachlassbesitz verspricht, so läuft für ihn die Zeit, weil er sich über einen Rechtssatz irrt. Dasselbe findet Satt, wenn der von demselben Vater erzeugte Bruder eines Verstorbenen glaubt, dass ihm die Mutter [in der Beerbung desselben], vorgehe. 2Wenn Jemand, nicht weiss, dass er ein Verwandter sei, so irrt er sich zuweilen in Betreff eines Rechtssatzes, zuweilen in Betreff einer Thatsache; denn wenn er weiss, dass er sowohl frei sei, als auch wer seine Eltern seien, aber nicht weiss, dass er die Rechte der Verwandschaft habe, so irrt er sich in Bezug auf einen Rechtssatz. Aber wenn etwa Jemand ausgesetzt war, und [daher] nicht weiss, wer seine Eltern seien, vielleicht auch Jemandem dient, in der Meinung, dass er ein Sclav sei, so irrt er sich mehr in Bezug auf eine Thatsache, als in Bezug auf einen Rechtssatz. 3Ingleichen wenn Jemand zwar weiss, dass einem Andern der Nachlassbesitz angetragen sei, aber nicht weiss, dass für diesen die Zeit [zur Annahme] des Nachlassbesitzes abgelaufen sei, so irrt er über eine Thatsache. Dasselbe findet Statt, wenn er glaubt, das jener den Nachlassbesitz angenommen habe. Aber, wenn er weiss, dass jener um [den Nachlassbesitz] nicht gebeten habe, und für denselben die Zeit abgelaufen sei, aber nicht weiss, dass ihm [selbst] der Nachlassbesitz dem über das Nachrücken handelnden Capitel [des Edicts] gemäss zustehe, so wird für ihn die Zeit laufen, weil er sich in Betreff eines Rechtssatzes irrt. 4Dasselbe werden wir sagen, wenn ein aufs Ganze eingesetzter Erbe glaubt, dass er vor Eröffnung des Testaments um den Nachlassbesitz nicht bitten könne; wenn er aber nicht weiss, dass ein Testament vorhanden sei, so irrt er sich in Bezug auf eine Thatsache.

2Ne­ra­tius li­bro quin­to mem­bra­na­rum. In om­ni par­te er­ror in iu­re non eo­dem lo­co quo fac­ti igno­ran­tia ha­be­ri de­be­bit, cum ius fi­ni­tum et pos­sit es­se et de­beat, fac­ti in­ter­pre­ta­tio ple­rum­que et­iam pru­den­tis­si­mos fal­lat.

2Nerat. lib. V. Membran. Der Irrthum über einen Rechtssatz wird nicht überall dem Nichtwissen einer Thatsache gleichgestellt werden dürfen, da das Recht sowohl bestimmt sein kann, als es sein muss, in der Erklärung einer Thatsache [aber] sich oft auch die Klügsten täuschen.

3Pom­po­nius li­bro ter­tio ad Sa­binum. Plu­ri­mum in­ter­est, utrum quis de al­te­rius cau­sa et fac­to non sci­ret an de iu­re suo igno­rat. 1Sed Cas­sius igno­ran­tiam Sa­binum ita ac­ci­pien­dam ex­is­ti­mas­se re­fert non de­per­di­ti et ni­mium se­cu­ri ho­mi­nis.

3Pompon. lib. III. ad Sabin. Es ist ein sehr grosser Unterschied, ob Jemand von einem Rechtsverhältniss oder einer Handlung eines Andern nichts weiss, oder ob er sein eigenes Recht nicht kennt. 1Aber Cassius berichtet, dass Sabinus geglaubt habe, es sei unter dem Nichtwissen das eines nicht ganz und gar nachlässigen und allzu sorglosen Menschen zu verstehen.

4Idem li­bro ter­tio de­ci­mo ad Sa­binum. Iu­ris igno­ran­tiam in usu­ca­pio­ne ne­ga­tur prod­es­se: fac­ti ve­ro igno­ran­tiam prod­es­se con­stat.

4Idem lib. III. ad Sabin. Man sagt, dass das Nichtwissen eines Rechtssatzes bei der Ersitzung nicht nütze22D. h. schade. Wer also z. B. von einem Mündel ohne Ermächtigung des Vormundes eine Sache kauft, in der Meinung, dass der Mündel allein verkaufen könne, kann die Sache durch Ersitzung nicht erwerben. Vgl. L. 2. §. 15. D. pro emt. 41. 4.; dass aber das Nichtwissen einer Thatsache nütze, ist bekannt.

5Te­ren­tius Cle­mens li­bro se­cun­do ad le­gem Iu­liam et Pa­piam. In­iquis­si­mum vi­de­tur cui­quam scien­tiam al­te­rius quam suam no­ce­re vel igno­ran­tiam al­te­rius alii pro­fu­tu­ram.

5Terent. Clem. lib. II. ad leg. Jul. et Pap. Es scheint, dass es sehr unbillig sein würde, wenn Jemandem [vielmehr] das Wissen eines Anderen, als sein eigenes schaden sollte, oder wenn das Nichtwissen des Einen dem Anderen nützen würde.

6Ul­pia­nus li­bro oc­ta­vo de­ci­mo ad le­gem Iu­liam et Pa­piam. Nec su­pi­na igno­ran­tia fe­ren­da est fac­tum igno­ran­tis, ut nec scru­pu­lo­sa in­qui­si­tio ex­igen­da: scien­tia enim hoc mo­do aes­ti­man­da est, ut ne­que neg­le­gen­tia cras­sa aut ni­mia se­cu­ri­tas sa­tis ex­pe­di­ta sit ne­que de­la­to­ria cu­rio­si­tas ex­iga­tur.

6Ulp. lib. XVIII. ad leg. Jul. et Pap. Weder ein nachlässiges Nichtwissen desjenigen, der eine Thatsache nicht weiss, ist zu verzeihen, noch eine mühsame Nachforschung zu verlangen; das Wissen ist nämlich so zu beurtheilen, dass weder eine grobe Nachlässigkeit oder eine allzugrosse Sorglosigkeit zur Genüge entschuldigt ist, noch eine Sorgfalt im Ausspüren wie die eines Angebers gefordert wird.

7Pa­pi­nia­nus li­bro no­no de­ci­mo quaes­tio­num. Iu­ris igno­ran­tia non prod­est ad­quire­re vo­len­ti­bus, suum ve­ro pe­ten­ti­bus non no­cet.

7Papinian. lib. XIX. Quaestion. Das Nichtwissen eines Rechtssatzes nützt denen, welche erwerben wollen, nicht33D. h. schadet. S. die vor. Anm., denen aber, welche das Ihrige fordern, schadet es nicht.

8Idem li­bro pri­mo de­fi­ni­tio­num. Er­ror fac­ti ne ma­ri­bus qui­dem in dam­nis vel com­pen­diis ob­est, iu­ris au­tem er­ror nec fe­mi­nis in com­pen­diis prod­est: ce­te­rum om­ni­bus iu­ris er­ror in dam­nis amit­ten­dae rei suae non no­cet.

8Idem lib. I. Definit. Der Irrthum über eine Thatsache schadet nicht einmal Männern bei Verlusten und Vortheilen, ein Irrthum über einen Rechtssatz aber nützt nicht einmal Frauen bei Vortheilen; übrigens schadet durchaus Niemandem ein Irrthum über einen Rechtssatz bei [der Abwendung von] bevorstehenden Verlusten des Seinigen.

9Pau­lus li­bro sin­gu­la­ri de iu­ris et fac­ti igno­ran­tia. Re­gu­la est iu­ris qui­dem igno­ran­tiam cui­que no­ce­re, fac­ti ve­ro igno­ran­tiam non no­ce­re. vi­dea­mus igi­tur, in qui­bus spe­cie­bus lo­cum ha­be­re pos­sit, an­te prae­mis­so quod mi­no­ri­bus vi­gin­ti quin­que an­nis ius igno­ra­re per­mis­sum est. quod et in fe­mi­nis in qui­bus­dam cau­sis prop­ter se­xus in­fir­mi­ta­tem di­ci­tur: et id­eo si­cu­bi non est de­lic­tum, sed iu­ris igno­ran­tia, non lae­dun­tur. hac ra­tio­ne si mi­nor vi­gin­ti quin­que an­nis fi­lio fa­mi­lias cre­di­de­rit, sub­ve­ni­tur ei, ut non vi­dea­tur fi­lio fa­mi­lias cre­di­dis­se. 1Si fi­lius fa­mi­lias mi­les a com­mi­li­to­ne he­res in­sti­tu­tus ne­sciat si­bi et­iam si­ne pa­tre li­ce­re ad­ire per con­sti­tu­tio­nes prin­ci­pa­les, ius igno­ra­re pot­est et id­eo ei dies ad­itio­nis ce­dit. 2Sed fac­ti igno­ran­tia ita de­mum cui­que non no­cet, si non ei sum­ma neg­le­gen­tia ob­icia­tur: quid enim si om­nes in ci­vi­ta­te sciant, quod il­le so­lus igno­rat? et rec­te La­beo de­fi­nit scien­tiam ne­que cu­rio­sis­si­mi ne­que neg­le­gen­tis­si­mi ho­mi­nis ac­ci­pien­dam, ve­rum eius, qui cum eam rem ut, di­li­gen­ter in­qui­ren­do no­tam ha­be­re pos­sit. 3Sed iu­ris igno­ran­tiam non prod­es­se La­beo ita ac­ci­pien­dum ex­is­ti­mat, si iu­ris con­sul­ti co­piam ha­be­ret vel sua pru­den­tia in­struc­tus sit, ut, cui fa­ci­le sit sci­re, ei de­tri­men­to sit iu­ris igno­ran­tia: quod ra­ro ac­ci­pien­dum est. 4Qui igno­ra­vit do­mi­num es­se rei ven­di­to­rem, plus in re est, quam in ex­is­ti­ma­tio­ne men­tis: et id­eo, tam­et­si ex­is­ti­met se non a do­mi­no eme­re, ta­men, si a do­mi­no ei tra­da­tur, do­mi­nus ef­fi­ci­tur. 5Si quis ius igno­rans le­ge Fal­ci­dia usus non sit, no­ce­re ei di­cit epis­tu­la di­vi Pii. sed et im­pe­ra­to­res Se­ve­rus et An­to­ni­nus in haec ver­ba re­scrip­se­runt: ‘Quod ex cau­sa fi­dei­com­mis­si in­de­bi­tum da­tum est, si non per er­ro­rem so­lu­tum est, re­pe­ti non pot­est. quam­ob­rem Gar­gi­lia­ni he­redes, qui, cum ex tes­ta­men­to eius pe­cu­niam ad opus aquae duc­tus rei pu­bli­cae cir­ten­sium re­lic­tam sol­ve­rint, non so­lum cau­tio­nes non ex­ege­runt, quae in­ter­po­ni so­lent, ut quod am­plius ce­pis­sent mu­ni­ci­pes quam per le­gem Fal­ci­diam li­cuis­set red­de­rent, ve­rum et­iam sti­pu­la­ti sunt, ne ea sum­ma in alios usus con­ver­te­re­tur et scien­tes pru­den­tes­que pas­si sunt eam pe­cu­niam in opus aquae duc­tus im­pen­di, frus­tra pos­tu­lant red­di si­bi a re pu­bli­ca cir­ten­sium, qua­si plus de­bi­to de­de­rint, cum sit utrum­que in­iquum pe­cu­niam, quae ad opus aquae duc­tus da­ta est, re­pe­ti et rem pu­bli­cam ex cor­po­re pa­tri­mo­nii sui im­pen­de­re in id opus, quod to­tum alie­nae li­be­ra­li­ta­tis glo­riam re­prae­sen­tet. quod si id­eo re­pe­ti­tio­nem eius pe­cu­niae ha­be­re cre­dunt, quod im­pe­ritia lap­si le­gis Fal­ci­diae be­ne­fi­cio usi non sunt, sciant igno­ran­tiam fac­ti, non iu­ris prod­es­se nec stul­tis so­le­re suc­cur­ri, sed er­ran­ti­bus’. 6Et li­cet mu­ni­ci­pum men­tio in hac epis­tu­la fiat, ta­men et in qua­li­bet per­so­na idem ob­ser­va­bi­tur. sed nec quod in ope­re aquae duc­tus re­lic­ta es­se pe­cu­nia pro­po­ni­tur, in hunc so­lum ca­sum ces­sa­re re­pe­ti­tio­nem di­cen­dum est. nam in­itium con­sti­tu­tio­nis ge­ne­ra­le est: de­mons­trat enim, si non per er­ro­rem so­lu­tum sit fi­dei­com­mis­sum, quod in­de­bi­tum fuit, non pos­se re­pe­ti: item et il­la pars ae­que ge­ne­ra­lis est, ut qui iu­ris igno­ran­tia le­gis Fal­ci­diae be­ne­fi­cio usi non sunt, non pos­sint re­pe­te­re: ut se­cun­dum hoc pos­sit di­ci et­iam, si pe­cu­nia, quae per fi­dei­com­mis­sum re­lic­ta est quae­que so­lu­ta est, non ad ali­quid fa­cien­dum re­lic­ta sit, et li­cet con­sump­ta non sit, sed ex­stet apud eum cui so­lu­ta est, ces­sa­re re­pe­ti­tio­nem.

9Paul. lib. sing. de jur. et facti ignor. Es gilt die Regel, dass zwar das Nichtwissen eines Rechtssatzes einem Jeden schade, das Nichtwissen einer Thatsache aber nicht schade. Wir wollen daher untersuchen, in welchen Fällen sie Statt haben könne, nachdem wir zuvor vorausgeschickt haben, dass es denen, welche jünger als fünfundzwanzig Jahre sind, erlaubt ist, das Recht nicht zu kennen — was man auch von den Frauen in gewissen Fällen wegen der Schwachheit ihres Geschlechts sagt — und darum werden sie da, wo kein Vergehen vorhanden ist, sondern ein Nichtwissen eines Rechtssatzes, nicht verletzt. Aus diesem Grunde kommt man Einem, der jünger als fünfundzwanzig Jahre ist, wenn er einem Haussohn dargeliehen haben wird zu Hülfe, so dass es so angesehen wird, als habe er nicht einem Haussohn dargeliehen. 1Wenn ein Haussohn, der Soldat ist, von seinem Cameraden zum Erben eingesetzt ist und nicht weiss, dass er auch ohne seinen Vater [die Erbschaft] antreten dürfe, so ist es ihm kraft kaiserlicher Constitutionen erlaubt (potest), das Recht nicht zu kennen; und darum läuft ihm der Termin der Antretung nicht. 2Aber das Nichtwissen einer Thatsache schadet Jemandem nur dann nicht, wenn ihm nicht die höchste Nachlässigkeit vorgeworfen werden kann; denn wie, wenn alle in der Stadt wissen sollten, was er allein nicht weiss? Und richtig bestimmt Labeo [dies so], dass man unter dem Wissen weder das eines höchst sorgfältigen, noch das eines ganz nachlässigen, sondern das [Wissen] desjenigen verstehen müsse, der die [fragliche] Sache dadurch, dass er fleissig nachforschte, hätte wissen können. 3Dass aber das Nichtwissen eines Rechtssatzes nichts nütze (schade), glaubt Labeo, sei so zu verstehen, wenn der [Nichtwissende] Gelegenheit, [Belehrung] durch einen Rechtsgelehrten [zu erhalten,] gehabt hätte, oder selbst [Rechts-]Kenntniss habe, so dass [nur] dem, welchem es leicht sei, [das Recht] zu kennen, das Nichtwissen eines Rechtssatzes zum Nachtheil gereiche. Dies ist aber selten anzunehmen44Diese Worte sind auf den ganzen vorhergehenden Satz zu beziehen und der Sinn derselben ist: die von Labeo augestellte Einschränkung der Regel wird selten zur Anwendung kommen. Vgl. Mühlenbruch im Arch. f. civ. Pr. Bd. 2. S. 382 f.. 4Wenn Jemand nicht gewusst hat, dass der Verkäufer Eigenthümer der [verkauften] Sache sei, so gilt die wahre Beschaffenheit der Sache mehr, als die blosse Meinung, und darum wird er, obgleich er glauben sollte, dass er [die Sache] nicht von dem Eigenthümer kaufe, dennoch zum Eigenthümer gemacht, wenn [sie] ihm vom Eigenthümer übergeben wird. 5Wenn Jemand sich, weil er das Recht nicht kannte, des Falcidischen Gesetzes nicht bedient hat, so schadet ihm das, wie ein Schreiben des höchstseligen Pius sagt. Aber auch die Kaiser Severus und Antoninus haben folgendermaassen rescribirt: Was bei Gelegenheit eines Fideicommisses ungeschuldet gegeben worden ist, kann nicht zurückgefordert werden, wenn es nicht aus Irrthum [über eine Thatsache] gezahlt worden ist, deshalb verlangen die Erben des Cargilianus, — welche, als sie dem Testament desselben gemäss zur Anlegung einer Wasserleitung Geld an das Gemeinwesen der Cirtenser gezahlt hatten, die Sicherheitsbestellung, welche gewöhnlich vorzukommen pflegt, dass [nämlich] die Municipalbürger das, was sie mehr genommen hätten, als kraft des Falcidischen Gesetzes erlaubt gewesen wäre, zurückgeben sollten, nicht gefordert haben, sondern nur stipulirt haben, dass jene Summe zu anderen Zwecken nicht verwendet werden sollte, und mit Wissen und Bedacht geduldet haben, dass jenes [ganze] Geld zur Anlegung einer Wasserleitung angewendet wurde, — vergeblich, dass ihnen [Etwas] von dem Gemeinwesen der Cirtenser zurückgegeben werden solle, gleich als ob sie mehr, als was sie schuldig gewesen, gegeben hätten, da beides unbillig sein würde, [sowohl] wenn das Geld, welches zur Anlegung einer Wasserleitung gegeben worden ist, zurückgefordert werden würde, als auch wenn das Gemeinwesen aus seinem eigenen Vermögensbestand, [Etwas] auf ein solches Werk verwenden sollte, welches ganz und gar [nur] fremde Freigebigkeit verherrliche. Wenn sie aber darum ein Recht zur Zurückforderung jenes Geldes zu haben glauben, weil sie aus Unkunde sich der Wohlthat des Falcidischen Gesetzes nicht bedient haben, so mögen sie wissen, dass das Nichtwissen einer Thatsache, nicht das eines Rechtssatzes nütze, und dass man nicht Einfältigen, sondern Irrenden zu Hülfe komme. 6Und wenn gleich in diesem Schreiben nur der Municipalbürger Erwähnung geschieht, so wird doch dasselbe auch in Betreff einer jeden anderen Person beobachtet werden. Man muss aber auch nicht [deshalb], weil [hier] der Fall vorgelegt wird, dass Geld zur Anlegung einer Wasserleitung hinterlassen worden sei, sagen, dass blos in diesem Fall das Recht zur Zurückforderung wegfalle; denn der Anfang der Constitution ist allgemein, er zeigt nämlich, dass wenn ein Fideicommiss nicht aus Irrthum [über eine Thatsache] gezahlt worden sei, das, was nicht geschuldet gewesen ist, nicht zurückgefordert werden könne. Desgleichen ist auch der Satz auf gleiche Weise allgemein, dass die, welche aus Nichtwissen des Rechts sich der Wohlthat des Falcidischen Gesetzes nicht bedient haben, nicht zurückfordern können; so dass man demgemäss sagen kann, dass, wenn auch das Geld, welches durch ein Fideicommiss hinterlassen worden ist, und welches gezahlt worden ist, nicht zu irgend einem Zweck hinterlassen worden ist, und wenngleich es noch nicht verbraucht worden ist, sondern bei dem, dem es gezahlt worden ist, noch vorhanden ist, das Recht zur Zurückforderung wegfalle.

10Pa­pi­nia­nus li­bro sex­to re­spon­so­rum. Im­pu­be­res si­ne tu­to­re agen­tes ni­hil pos­se vel sci­re in­tel­le­gun­tur.

10Ad Dig. 22,6,10BOHGE, Bd. 1 (1871), S. 114: Die Rechte unbevormundeter Pflegebefohlnen können durch ihre Handlungen oder Unterlassungen nicht verwirkt werden.Papinian. lib. VI. Resp. Unmündige, welche ohne ihren Vormund handeln, werden so angesehen, als könnten und wüssten sie nichts.