Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Erstes Buch übersetzt von Sintenis
Dig. I1,
De iustitia et iure
Domini nostri sacratissimi principis Iustiniani iuris enucleati ex omni vetere iure collecti digestorum seu pandectarum liber primus
I.

De iustitia et iure

(Von der Gerechtigkeit und dem Recht.)

1Ul­pia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Iu­ri ope­ram da­tu­rum prius nos­se opor­tet, un­de no­men iu­ris de­scen­dat. est au­tem a ius­ti­tia ap­pel­la­tum: nam, ut ele­gan­ter Cel­sus de­fi­nit, ius est ars bo­ni et ae­qui. 1Cu­ius me­ri­to quis nos sa­cer­do­tes ap­pel­let: ius­ti­tiam nam­que co­li­mus et bo­ni et ae­qui no­ti­tiam pro­fi­te­mur, ae­quum ab in­iquo se­pa­ran­tes, li­ci­tum ab il­li­ci­to dis­cer­nen­tes, bo­nos non so­lum me­tu poe­na­rum, ve­rum et­iam prae­mio­rum quo­que ex­hor­ta­tio­ne ef­fi­ce­re cu­pien­tes, ve­ram ni­si fal­lor phi­lo­so­phiam, non si­mu­la­tam af­fec­tan­tes. 2Hu­ius stu­dii duae sunt po­si­tio­nes, pu­bli­cum et pri­va­tum. pu­bli­cum ius est quod ad sta­tum rei Ro­ma­nae spec­tat, pri­va­tum quod ad sin­gu­lo­rum uti­li­ta­tem: sunt enim quae­dam pu­bli­ce uti­lia, quae­dam pri­va­tim. pu­bli­cum ius in sa­cris, in sa­cer­do­ti­bus, in ma­gis­tra­ti­bus con­sis­tit. pri­va­tum ius tri­per­ti­tum est: col­lec­tum et­enim est ex na­tu­ra­li­bus prae­cep­tis aut gen­tium aut ci­vi­li­bus. 3Ius na­tu­ra­le est, quod na­tu­ra om­nia ani­ma­lia do­cuit: nam ius is­tud non hu­ma­ni ge­ne­ris pro­prium, sed om­nium ani­ma­lium, quae in ter­ra, quae in ma­ri nas­cun­tur, avium quo­que com­mu­ne est. hinc de­scen­dit ma­ris at­que fe­mi­nae con­iunc­tio, quam nos ma­tri­mo­nium ap­pel­la­mus, hinc li­be­ro­rum pro­crea­tio, hinc edu­ca­tio: vi­de­mus et­enim ce­te­ra quo­que ani­ma­lia, fe­ras et­iam is­tius iu­ris pe­ri­tia cen­se­ri. 4Ius gen­tium est, quo gen­tes hu­ma­nae utun­tur. quod a na­tu­ra­li re­ce­de­re fa­ci­le in­tel­le­ge­re li­cet, quia il­lud om­ni­bus ani­ma­li­bus, hoc so­lis ho­mi­ni­bus in­ter se com­mu­ne sit.

1Ulp. lib. I. Institution. Wer das Recht studieren will, muss zuvor wissen, woher das Wort Recht abgeleitet wird. Es ist nämlich so von Gerechtigkeit benannt worden, denn das Recht ist, wie Celsus mit Feinheit den Begriff bestimmt, die Wissenschaft dessen, was recht und billig ist. 1Mit vollem Recht nennt man uns daher deren Priester; denn wir pflegen die Gerechtigkeit, wie lehren die Erkenntnis des Rechten und Billigen, indem wir das Billige vom Unbilligen sondern, das Erlaubte vom Unerlaubten scheiden, und die Menschen nicht nur durch Furcht vor Strafen, sondern auch durch Aufmunterung zu erwerbender Belohnungen, zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten suchen, und, wie mir deucht, dadurch nach einer richtigen, und nicht nach einer trüglichen Philosophie streben. 2Das Studium des Rechts hat zwei Haupttheile, das öffentliche und das Privatrecht. Das öffentliche Recht bezieht sich auf den Römischen Staat, das Privatrecht auf den Nutzen der Einzelnen; denn manches ist von öffentlichem Nutzen, manches von Privatnutzen. Das öffentliche Recht bezieht sich auf das Heilige, die Priester und Behörden. Das Privatrecht hat drei Bestandteile, denn es ist aus den Grundsätzen des Naturrechts, des Völkerrechts und des bürgerlichen Rechts zusammengesetzt. 3Naturrecht heisst dasjenige, welches die Natur alle Geschöpfe gelehrt hat; denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschen eigenthümlich, sondern allen Thieren, die auf Erden und im Meere entstehen, auch den Vögeln, gemeinschaftlich. Hieraus entspringt die Verbindung des Mannes mit dem Weibe, die wir Ehe nennen, hieraus die Erzeugung der Kinder und deren Erziehung; denn wir wissen, dass man die übrigen Geschöpfe, auch die wilden Thiere, dieses Rechts für kundig hält. 4Das Völkerrecht ist dasjenige, dessen sich die Völker bedienen; dass dies vom Naturrecht abweiche, ist leicht einzusehen, weil dies allen Geschöpfen, jenes den Menschen gegen einander allein gemeinschaftlich ist;

2Pom­po­nius li­bro sin­gu­la­ri en­chi­ri­dii. Vel­uti er­ga deum re­li­gio: ut pa­ren­ti­bus et pa­triae pa­rea­mus:

2Pompon. lib. singul. Enchiridii. wie die Verehrung Gottes, der Gehorsam gegen die Eltern und das Vaterland.

3Flo­ren­ti­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. ut vim at­que in­iu­riam pro­pul­se­mus: nam iu­re hoc eve­nit, ut quod quis­que ob tu­te­lam cor­po­ris sui fe­ce­rit, iu­re fe­cis­se ex­is­ti­me­tur, et cum in­ter nos co­gna­tio­nem quan­dam na­tu­ra con­sti­tuit, con­se­quens est ho­mi­nem ho­mi­ni in­si­dia­ri ne­fas es­se.

3Florentin. lib. I. Instit. Die Vertheidigung gegen Gewalt und Widerrechtlichkeit. Denn vermöge dieses Rechts steht es fest, dass alles, was man zum Schutz seines Körpers gethan hat, als mit Recht gethan angesehen wird; und da die Natur zwischen uns ein Band der gemeinschaftlichen Abstammung11Cognatio. geknüpft hat, so ist es demgemäss unrecht, dass ein Mensch dem andern nachstelle.

4Ul­pia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Ma­nu­mis­sio­nes quo­que iu­ris gen­tium sunt. est au­tem ma­nu­mis­sio de ma­nu mis­sio, id est da­tio li­ber­ta­tis: nam quam­diu quis in ser­vi­tu­te est, ma­nui et po­tes­ta­ti sup­po­si­tus est, ma­nu­mis­sus li­be­ra­tur po­tes­ta­te. quae res a iu­re gen­tium ori­gi­nem sump­sit, ut­po­te cum iu­re na­tu­ra­li om­nes li­be­ri nas­ce­ren­tur nec es­set no­ta ma­nu­mis­sio, cum ser­vi­tus es­set in­co­gni­ta: sed post­ea­quam iu­re gen­tium ser­vi­tus in­va­sit, se­cu­tum est be­ne­fi­cium ma­nu­mis­sio­nis. et cum uno na­tu­ra­li no­mi­ne ho­mi­nes ap­pel­la­re­mur, iu­re gen­tium tria ge­ne­ra es­se coe­pe­runt: li­be­ri et his con­tra­rium ser­vi et ter­tium ge­nus li­ber­ti, id est hi qui de­sie­rant es­se ser­vi.

4Ulp. lib. I. Instit. Auch die Freilassungen sind Völkerrechtens. Die Freilassung ist gleichsam die Entlassung aus der Hand, d. h. die Ertheilung der Freiheit; denn so lange Jemand in der Sclaverei befindlich ist, ist er der Hand und Gewalt unterworfen; der Freigelassene wird von der Gewalt befreit. Dieses Verhältniss ist völkerrechtlichen Ursprungs, indem nach dem Naturrecht Jeder frei geboren wird, und Freilassung nicht bekannt war, weil man von Sclaverei nicht wusste; als aber die Sclaverei nach dem Völkerrecht aufkam, so erfolgte nachher die Wohlthat der Freilassung, und obschon wir nur mit diesem einen natürlichen Namen, Menschen, bezeichnet werden, so gab es nun nach dem Völkerrecht drei Arten: Freie; im Gegensatz zu diesen, Sclaven, und als dritte Art Freigelassene, d. h. diejenigen, welche aufgehört hatten, Sclaven zu sein.

5Her­mo­ge­nia­nus li­bro pri­mo iu­ris epi­to­ma­rum. Ex hoc iu­re gen­tium in­tro­duc­ta bel­la, dis­cre­tae gen­tes, reg­na con­di­ta, do­mi­nia di­stinc­ta, agris ter­mi­ni po­si­ti, ae­di­fi­cia col­lo­ca­ta, com­mer­cium, emp­tio­nes ven­di­tio­nes, lo­ca­tio­nes con­duc­tio­nes, ob­li­ga­tio­nes in­sti­tu­tae: ex­cep­tis qui­bus­dam quae iu­re ci­vi­li in­tro­duc­tae sunt.

5Hermogenian. lib. I. Jur. epitom. Aus diesem Völkerrecht entstand der Krieg, die Völker trennten sich, Reiche wurden gegründet, das Eigenthum bestimmt, die Ländereien mit Grenzen umzogen, Häuser gebauet, Handel, Kauf, Miethe und Verbindlichkeiten begründet, ausgenommen einiges, was durch das bürgerliche Recht eingeführt worden ist.

6Ul­pia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Ius ci­vi­le est, quod ne­que in to­tum a na­tu­ra­li vel gen­tium re­ce­dit nec per om­nia ei ser­vit: ita­que cum ali­quid ad­di­mus vel de­tra­hi­mus iu­ri com­mu­ni, ius pro­prium, id est ci­vi­le ef­fi­ci­mus. 1Hoc igi­tur ius nos­trum con­stat aut ex scrip­to aut si­ne scrip­to, ut apud Grae­cos: τῶν νόμων οἱ μὲν ἔγγραφοι, οἱ δὲ ἄγραφοι.

6Ulp. lib. I. Instit. Das bürgerliche Recht ist dasjenige, welches vom Natur- oder Völkerrecht weder ganz und gar abweicht, noch sich ganz und gar nach demselben richtet; wenn wir daher dem allgemeinen Rechte etwas zusetzen, oder etwas von ihm weglassen, so entsteht daraus ein eigenthümliches, d. h. ein bürgerliches Recht. 1Dieses unser Recht besteht nun entweder aus geschriebenem, oder aus ungeschriebenem, wie bei den Griechen τῶν νόμων οἱ μὲν ἔγγραφοι, οἱ δὲ ἄγραφοι (von den Gesetzen einige geschrieben, andere ungeschrieben.)

7Pa­pi­nia­nus li­bro se­cun­do de­fi­ni­tio­num. Ius au­tem ci­vi­le est, quod ex le­gi­bus, ple­bis sci­tis, se­na­tus con­sul­tis, de­cre­tis prin­ci­pum, auc­to­ri­ta­te pru­den­tium venit. 1Ius prae­to­rium est, quod prae­to­res in­tro­du­xe­runt ad­iu­van­di vel sup­plen­di vel cor­ri­gen­di iu­ris ci­vi­lis gra­tia prop­ter uti­li­ta­tem pu­bli­cam. quod et ho­no­ra­rium di­ci­tur ad ho­no­rem prae­to­rum sic no­mi­na­tum.

7Papin. lib. II. Defin. Das bürgerliche Recht ist dasjenige, welches seinen Ursprung aus Gesetzen, Volksschlüssen, Senatsbeschlüssen, Verordnungen der Kaiser und dem Ansehen der Rechtsgelehrten genommen hat. 1Das prätorische Recht ist dasjenige, welches die Prätoren, um dem bürgerlichen Rechte zu Hülfe zu kommen, es zu ergänzen oder zu verbessern, des allgemeinen Nutzens wegen eingeführt haben; es heisst auch das Würdenrecht, zu Ehren der Prätoren so genannt.

8Mar­cia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Nam et ip­sum ius ho­no­ra­rium vi­va vox est iu­ris ci­vi­lis.

8Marcian. lib. II. Defin. Denn das Würdenrecht selbst ist die lebendige Stimme des bürgerlichen Rechts.

9Gaius li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Om­nes po­pu­li, qui le­gi­bus et mo­ri­bus re­gun­tur, par­tim suo pro­prio, par­tim com­mu­ni om­nium ho­mi­num iu­re utun­tur. nam quod quis­que po­pu­lus ip­se si­bi ius con­sti­tuit, id ip­sius pro­prium ci­vi­ta­tis est vo­ca­tur­que ius ci­vi­le, qua­si ius pro­prium ip­sius ci­vi­ta­tis: quod ve­ro na­tu­ra­lis ra­tio in­ter om­nes ho­mi­nes con­sti­tuit, id apud om­nes perae­que cus­to­di­tur vo­ca­tur­que ius gen­tium, qua­si quo iu­re om­nes gen­tes utun­tur.

9Gaj. lib. I. Instit. Alle Völker, welche nach Gesetz und Herkommen regiert werden, haben theils ein eigenes, theils ein allen Menschen gemeinschaftliches Recht. Denn das Recht, welches, sich jedes Volk selbst bildet, ist seinem Staate allein eigenthümlich und wird als solches bürgerliches Recht genannt; das Recht aber, welches eine natürliche Ursache unter allen Menschen begründet, wird auch bei allen gleichmässig beobachtet, und heisst Völkerrecht, weil dasselbe gleichsam alle Völker befolgen.

10Ul­pia­nus li­bro pri­mo re­gu­la­rum. Ius­ti­tia est con­stans et per­pe­tua vo­lun­tas ius suum cui­que tri­buen­di. 1Iu­ris prae­cep­ta sunt haec: ho­nes­te vi­ve­re, al­te­rum non lae­de­re, suum cui­que tri­bue­re. 2Iu­ris pru­den­tia est di­vi­na­rum at­que hu­ma­na­rum re­rum no­ti­tia, ius­ti at­que in­ius­ti scien­tia.

10Ulp. lib. I. Regul. Gerechtigkeit ist der beständige und immerwährende Wille, Jedem sein Recht zukommen zu lassen. 1Die Grundsätze des Rechts sind folgende: anständig leben, keinen Andern verletzen, Jedem das Seine zukommen lassen. 2Die Rechtsgelehrtheit ist die Kenntniss der göttlichen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft des Rechten und des Unrechten.

11Pau­lus li­bro quar­to de­ci­mo ad Sa­binum. Ius plu­ri­bus mo­dis di­ci­tur: uno mo­do, cum id quod sem­per ae­quum ac bo­num est ius di­ci­tur, ut est ius na­tu­ra­le. al­te­ro mo­do, quod om­ni­bus aut plu­ri­bus in qua­que ci­vi­ta­te uti­le est, ut est ius ci­vi­le. nec mi­nus ius rec­te ap­pel­la­tur in ci­vi­ta­te nos­tra ius ho­no­ra­rium. prae­tor quo­que ius red­de­re di­ci­tur et­iam cum in­ique de­cer­nit, re­la­tio­ne sci­li­cet fac­ta non ad id quod ita prae­tor fe­cit, sed ad il­lud quod prae­to­rem fa­ce­re con­ve­nit. alia sig­ni­fi­ca­tio­ne ius di­ci­tur lo­cus in quo ius red­di­tur, ap­pel­la­tio­ne col­la­ta ab eo quod fit in eo ubi fit. quem lo­cum de­ter­mi­na­re hoc mo­do pos­su­mus: ubi­cum­que prae­tor sal­va ma­ies­ta­te im­pe­rii sui sal­vo­que mo­re ma­io­rum ius di­ce­re con­sti­tuit, is lo­cus rec­te ius ap­pel­la­tur.

11Paul. lib. XIV. ad Sabin. [Der Ausdruck] Recht wird in mehrfacher Bedeutung gebraucht; einmal, wenn das, was allezeit billig und Recht ist, Recht genannt wird, also das Naturrecht; sodann dasjenige, was Allen oder Mehrern in jedem Staate von Nutzen ist, also das bürgerliche Recht; eben so richtig wird in unserm Staate das Würdenrecht Recht genannt. Auch vom Prätor heisst es, er spreche Recht, selbst wenn er etwas unbilliger Weise verordnet, nämlich nicht in Betracht dessen, was er in der Art gethan hat, sondern dessen, was ihm zu tun obliegt. In einer andern Bedeutung heisst Recht derjenige Ort, wo Recht gesprochen wird, mit Uebertragung der Benennung von dem, was geschieht, auf den Ort, wo es geschieht; diesen Ort kann man auf diese Weise bezeichnen: jeder Ort, wo der Prätor mit Aufrechterhaltung der Würde seiner Gewalt und Beobachtung des Herkommens, Recht zu sprechen bestimmt, wird Recht genannt.

12Mar­cia­nus li­bro pri­mo in­sti­tu­tio­num. Non­num­quam ius et­iam pro ne­ces­si­tu­di­ne di­ci­mus vel­uti ‘est mi­hi ius co­gna­tio­nis vel ad­fi­ni­ta­tis.’

12Marcian. lib. I. Instit. Zuweilen braucht man auch den Ausdruck Recht für ein gewisses persönliches Verhältniss22Glück Commentar zu den Pandecten, I. 7. n. 16., z. B. ich habe das Recht der Verwandschaft oder Schwägerschaft.