De iustitia et iure
(Von der Gerechtigkeit und dem Recht.)
1Ulp. lib. I. Institution. Wer das Recht studieren will, muss zuvor wissen, woher das Wort Recht abgeleitet wird. Es ist nämlich so von Gerechtigkeit benannt worden, denn das Recht ist, wie Celsus mit Feinheit den Begriff bestimmt, die Wissenschaft dessen, was recht und billig ist. 1Mit vollem Recht nennt man uns daher deren Priester; denn wir pflegen die Gerechtigkeit, wie lehren die Erkenntnis des Rechten und Billigen, indem wir das Billige vom Unbilligen sondern, das Erlaubte vom Unerlaubten scheiden, und die Menschen nicht nur durch Furcht vor Strafen, sondern auch durch Aufmunterung zu erwerbender Belohnungen, zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten suchen, und, wie mir deucht, dadurch nach einer richtigen, und nicht nach einer trüglichen Philosophie streben. 2Das Studium des Rechts hat zwei Haupttheile, das öffentliche und das Privatrecht. Das öffentliche Recht bezieht sich auf den Römischen Staat, das Privatrecht auf den Nutzen der Einzelnen; denn manches ist von öffentlichem Nutzen, manches von Privatnutzen. Das öffentliche Recht bezieht sich auf das Heilige, die Priester und Behörden. Das Privatrecht hat drei Bestandteile, denn es ist aus den Grundsätzen des Naturrechts, des Völkerrechts und des bürgerlichen Rechts zusammengesetzt. 3Naturrecht heisst dasjenige, welches die Natur alle Geschöpfe gelehrt hat; denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschen eigenthümlich, sondern allen Thieren, die auf Erden und im Meere entstehen, auch den Vögeln, gemeinschaftlich. Hieraus entspringt die Verbindung des Mannes mit dem Weibe, die wir Ehe nennen, hieraus die Erzeugung der Kinder und deren Erziehung; denn wir wissen, dass man die übrigen Geschöpfe, auch die wilden Thiere, dieses Rechts für kundig hält. 4Das Völkerrecht ist dasjenige, dessen sich die Völker bedienen; dass dies vom Naturrecht abweiche, ist leicht einzusehen, weil dies allen Geschöpfen, jenes den Menschen gegen einander allein gemeinschaftlich ist;
2Pompon. lib. singul. Enchiridii. wie die Verehrung Gottes, der Gehorsam gegen die Eltern und das Vaterland.
3Florentin. lib. I. Instit. Die Vertheidigung gegen Gewalt und Widerrechtlichkeit. Denn vermöge dieses Rechts steht es fest, dass alles, was man zum Schutz seines Körpers gethan hat, als mit Recht gethan angesehen wird; und da die Natur zwischen uns ein Band der gemeinschaftlichen Abstammung11Cognatio. geknüpft hat, so ist es demgemäss unrecht, dass ein Mensch dem andern nachstelle.
4Ulp. lib. I. Instit. Auch die Freilassungen sind Völkerrechtens. Die Freilassung ist gleichsam die Entlassung aus der Hand, d. h. die Ertheilung der Freiheit; denn so lange Jemand in der Sclaverei befindlich ist, ist er der Hand und Gewalt unterworfen; der Freigelassene wird von der Gewalt befreit. Dieses Verhältniss ist völkerrechtlichen Ursprungs, indem nach dem Naturrecht Jeder frei geboren wird, und Freilassung nicht bekannt war, weil man von Sclaverei nicht wusste; als aber die Sclaverei nach dem Völkerrecht aufkam, so erfolgte nachher die Wohlthat der Freilassung, und obschon wir nur mit diesem einen natürlichen Namen, Menschen, bezeichnet werden, so gab es nun nach dem Völkerrecht drei Arten: Freie; im Gegensatz zu diesen, Sclaven, und als dritte Art Freigelassene, d. h. diejenigen, welche aufgehört hatten, Sclaven zu sein.
5Hermogenian. lib. I. Jur. epitom. Aus diesem Völkerrecht entstand der Krieg, die Völker trennten sich, Reiche wurden gegründet, das Eigenthum bestimmt, die Ländereien mit Grenzen umzogen, Häuser gebauet, Handel, Kauf, Miethe und Verbindlichkeiten begründet, ausgenommen einiges, was durch das bürgerliche Recht eingeführt worden ist.
6Ulp. lib. I. Instit. Das bürgerliche Recht ist dasjenige, welches vom Natur- oder Völkerrecht weder ganz und gar abweicht, noch sich ganz und gar nach demselben richtet; wenn wir daher dem allgemeinen Rechte etwas zusetzen, oder etwas von ihm weglassen, so entsteht daraus ein eigenthümliches, d. h. ein bürgerliches Recht. 1Dieses unser Recht besteht nun entweder aus geschriebenem, oder aus ungeschriebenem, wie bei den Griechen τῶν νόμων οἱ μὲν ἔγγραφοι, οἱ δὲ ἄγραφοι (von den Gesetzen einige geschrieben, andere ungeschrieben.)
7Papin. lib. II. Defin. Das bürgerliche Recht ist dasjenige, welches seinen Ursprung aus Gesetzen, Volksschlüssen, Senatsbeschlüssen, Verordnungen der Kaiser und dem Ansehen der Rechtsgelehrten genommen hat. 1Das prätorische Recht ist dasjenige, welches die Prätoren, um dem bürgerlichen Rechte zu Hülfe zu kommen, es zu ergänzen oder zu verbessern, des allgemeinen Nutzens wegen eingeführt haben; es heisst auch das Würdenrecht, zu Ehren der Prätoren so genannt.
9Gaj. lib. I. Instit. Alle Völker, welche nach Gesetz und Herkommen regiert werden, haben theils ein eigenes, theils ein allen Menschen gemeinschaftliches Recht. Denn das Recht, welches, sich jedes Volk selbst bildet, ist seinem Staate allein eigenthümlich und wird als solches bürgerliches Recht genannt; das Recht aber, welches eine natürliche Ursache unter allen Menschen begründet, wird auch bei allen gleichmässig beobachtet, und heisst Völkerrecht, weil dasselbe gleichsam alle Völker befolgen.
10Ulp. lib. I. Regul. Gerechtigkeit ist der beständige und immerwährende Wille, Jedem sein Recht zukommen zu lassen. 1Die Grundsätze des Rechts sind folgende: anständig leben, keinen Andern verletzen, Jedem das Seine zukommen lassen. 2Die Rechtsgelehrtheit ist die Kenntniss der göttlichen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft des Rechten und des Unrechten.
11Paul. lib. XIV. ad Sabin. [Der Ausdruck] Recht wird in mehrfacher Bedeutung gebraucht; einmal, wenn das, was allezeit billig und Recht ist, Recht genannt wird, also das Naturrecht; sodann dasjenige, was Allen oder Mehrern in jedem Staate von Nutzen ist, also das bürgerliche Recht; eben so richtig wird in unserm Staate das Würdenrecht Recht genannt. Auch vom Prätor heisst es, er spreche Recht, selbst wenn er etwas unbilliger Weise verordnet, nämlich nicht in Betracht dessen, was er in der Art gethan hat, sondern dessen, was ihm zu tun obliegt. In einer andern Bedeutung heisst Recht derjenige Ort, wo Recht gesprochen wird, mit Uebertragung der Benennung von dem, was geschieht, auf den Ort, wo es geschieht; diesen Ort kann man auf diese Weise bezeichnen: jeder Ort, wo der Prätor mit Aufrechterhaltung der Würde seiner Gewalt und Beobachtung des Herkommens, Recht zu sprechen bestimmt, wird Recht genannt.