Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Buch 43 übersetzt von Sintenis
Dig. XLIII30,
De liberis exhibendis, item ducendis
Liber quadragesimus tertius
XXX.

De liberis exhibendis, item ducendis

(Von der Auslieferung der Kinder und deren Abführung.)

1Ul­pia­nus li­bro sep­tua­gen­si­mo pri­mo ad edic­tum. Ait prae­tor: ‘Qui quae­ve in po­tes­ta­te Lu­cii Ti­tii est, si is ea­ve apud te est do­lo­ve ma­lo tuo fac­tum est, quo mi­nus apud te es­set, ita eum eam­ve ex­hi­beas’. 1Hoc in­ter­dic­tum pro­po­ni­tur ad­ver­sus eum, quem quis ex­hi­be­re de­si­de­rat eum, quem in po­tes­ta­te sua es­se di­cit. et ex ver­bis ap­pa­ret ei, cu­ius in po­tes­ta­te est, hoc in­ter­dic­tum con­pe­te­re. 2In hoc in­ter­dic­to prae­tor non ad­mit­tit cau­sam, cur apud eum sit is, qui ex­hi­be­ri de­bet, quem­ad­mo­dum in su­pe­rio­re in­ter­dic­to, sed om­ni­mo­do re­sti­tuen­dum pu­ta­vit, si in po­tes­ta­te est. 3Si ve­ro ma­ter sit, quae re­ti­net, apud quam in­ter­dum ma­gis quam apud pa­trem mo­ra­ri fi­lium de­be­re (ex ius­tis­si­ma sci­li­cet cau­sa) et di­vus Pius de­cre­vit et a Mar­co et a Se­ve­ro re­scrip­tum est, ae­que sub­ve­nien­dum ei erit per ex­cep­tio­nem. 4Pa­ri mo­do si iu­di­ca­tum fue­rit non es­se eum in po­tes­ta­te, et­si per in­iu­riam iu­di­ca­tum sit, agen­ti hoc in­ter­dic­to ob­icien­da erit ex­cep­tio rei iu­di­ca­tae, ne de hoc quae­ra­tur, an sit in po­tes­ta­te, sed an sit iu­di­ca­tum. 5Si quis fi­liam suam, quae mi­hi nup­ta sit, ve­lit ab­du­ce­re vel ex­hi­be­ri si­bi de­si­de­ret, an ad­ver­sus in­ter­dic­tum ex­cep­tio dan­da sit, si for­te pa­ter con­cor­dans ma­tri­mo­nium, for­te et li­be­ris sub­ni­xum, ve­lit dis­sol­ve­re? et cer­to iu­re uti­mur, ne be­ne con­cor­dan­tia ma­tri­mo­nia iu­re pa­triae po­tes­ta­tis tur­ben­tur. quod ta­men sic erit ad­hi­ben­dum, ut pa­tri per­sua­dea­tur, ne acer­be pa­triam po­tes­ta­tem ex­er­ceat.

1Ulp. lib. LXXI. ad Ed. Der Prätor sagt: Welcher [Sohn] oder welche [Tochter] in des Lucius Titius Gewalt ist, wenn der oder die sich bei dir befindet, oder es durch deine Arglist geschehen ist, dass er oder sie sich bei dir nicht befindet, den oder die sollst du ausliefern. 1Dieses Interdict wird wider Den begründet, von dem Jemand die Auslieferung Dessen verlangt, von dem er behauptet, dass er sich in seiner Gewalt befinde. Und aus den Worten des Edicts erhellt, dass Demjenigen dieses Interdict zuständig sei, in dessen Gewalt er sich befindet. 2Bei diesem Interdicte lässt der Prätor ebensowohl wie bei dem vorigen gar keinen Grund zu, warum sich bei ihm Der befinde, den er ausliefern soll, sondern er war der Ansicht, er müsse ihn jeden Falls herausgeben, sobald er sich in der Gewalt befindet. 3Wenn es aber die Mutter ist, welche ihn festhält, bei der sowohl dem Decrete des Divus Pius als dem Rescripte des Marcus und Severus zufolge die Kinder, zuweilen lieber als beim Vater bleiben sollen, vorausgesetzt, dass ein völlig rechtmässiger Grund vorhanden ist, so wird ihr ebenfalls durch eine Einrede geholfen werden müssen. 4Auf gleiche Weise wird, wenn rechtlich erkannt worden, dass sich [ein Kind] in Jemandes Gewalt nicht befinde, und wenn auch das Erkenntniss auf einer Ungerechtigkeit beruhen sollte, dem mit diesem Interdicte Klagenden die Einrede der rechtlich entschiedenen Sache entgegengestellt werden müssen, sodass dann nicht darauf Rücksicht genommen wird, ob er in Jemandes Gewalt stehe, sondern ob eine rechtliche Entscheidung vorhanden sei. 5Wenn Jemand seine an mich verheirathete Tochter hinfortführen will, oder deren Auslieferung verlangt, wird da wider das Interdict eine Einrede zu ertheilen sein, wenn etwa der Vater eine friedliche und mit Kindern gesegnete Ehe trennen will? — Allein es ist ein ausgemachter Rechtsgrundsatz, dass wohlharmonirende Ehen durch das Recht der väterlichen Gewalt nicht gestört werden dürfen; es muss hier aber so verfahren werden, dass man [zuvörderst] den Vater zu überreden sucht, von seiner väterlichen Gewalt keinen herben Gebrauch zu machen.

2Her­mo­ge­nia­nus li­bro sex­to iu­ris epi­to­ma­rum. Im­mo ma­gis de uxo­re ex­hi­ben­da ac du­cen­da pa­ter, et­iam qui fi­liam in po­tes­ta­te ha­bet, a ma­ri­to rec­te con­ve­ni­tur.

2Hermogen. lib. VI. jur. Epit. Ja, im Gegentheil wird der Vater, der eine Tochter in der Gewalt hat, von deren Ehemann rechtlichermaassen auf deren Auslieferung und Abführung belangt werden können.

3Ul­pia­nus li­bro sep­tua­gen­si­mo pri­mo ad edic­tum. De­in­de ait prae­tor: ‘Si Lu­cius Ti­tius in po­tes­ta­te Lu­cii Ti­tii est, quo mi­nus eum Lu­cio Ti­tio du­ce­re li­ceat, vim fie­ri ve­to’. 1Su­pe­rio­ra in­ter­dic­ta ex­hi­bi­to­ria sunt, hoc est per­ti­nent ad ex­hi­bitio­nem li­be­ro­rum ce­te­ro­rum­que, de qui­bus su­pra di­xi­mus: hoc au­tem in­ter­dic­tum per­ti­net ad duc­tio­nem, ut du­ce­re quis pos­sit eos, in quos ha­bet ius duc­tio­nis. ita­que prius in­ter­dic­tum, quod est de li­be­ris ex­hi­ben­dis, prae­pa­ra­to­rium est hu­ius in­ter­dic­ti: quo ma­gis enim quis du­ci pos­sit, ex­hi­ben­dus fuit. 2Ex iis­dem cau­sis hoc in­ter­dic­tum tri­buen­dum est, ex qui­bus cau­sis de ex­hi­ben­dis li­be­ris com­pe­te­re di­xi­mus: ita­que quae­cum­que ibi di­xi­mus, ea­dem hic quo­que dic­ta ac­ci­pien­da sunt. 3Hoc au­tem in­ter­dic­tum com­pe­tit non ad­ver­sus ip­sum fi­lium, quem quis du­ce­re vult, sed uti­que es­se de­bet is qui eum in­ter­dic­to de­fen­dat: ce­te­rum ces­sat in­ter­dic­tum, et suc­ce­de­re pot­erit no­tio prae­to­ris, ut apud eum dis­cep­te­tur, utrum quis in po­tes­ta­te sit an non sit. 4Iu­lia­nus ait, quo­tiens id in­ter­dic­tum mo­ve­tur de fi­lio du­cen­do vel co­gni­tio et is de quo agi­tur im­pu­bes est, alias dif­fer­ri opor­te­re rem in tem­pus pu­ber­ta­tis, alias re­prae­sen­ta­ri: id­que ex per­so­na eo­rum, in­ter quos con­tro­ver­sia erit, et ex ge­ne­re cau­sae con­sti­tuen­dum est. nam si is, qui se pa­trem di­cit, auc­to­ri­ta­tis pru­den­tiae fi­dei ex­plo­ra­tae es­set, us­que in diem li­tis im­pu­be­rem apud se ha­be­bit: is ve­ro, qui con­tro­ver­siam fa­cit, hu­mi­lis ca­lum­nia­tor no­tae ne­qui­tiae, re­prae­sen­tan­da co­gni­tio est. item si is, qui im­pu­be­rem ne­gat in alie­na po­tes­ta­te es­se, vir om­ni­bus mo­dis pro­ba­tus, tu­tor vel tes­ta­men­to vel a prae­to­re da­tus pu­pil­lum, quem in diem li­tis apud se ha­buit, tue­tur, is ve­ro, qui pa­trem se di­cit, su­spec­tus est qua­si ca­lum­nia­tor, dif­fer­ri li­tem non opor­te­bit. si ve­ro utra­que per­so­na su­spec­ta est aut tam­quam in­fir­ma aut tam­quam tur­pis, non erit alie­num, in­quit, dis­po­ni, apud quem in­ter­im puer edu­ce­re­tur et con­tro­ver­siam in tem­pus pu­ber­ta­tis dif­fer­ri, ne per col­lu­sio­nem vel im­pe­ritiam al­ter­utrius con­ten­den­tium aut alie­nae po­tes­ta­ti pa­ter fa­mi­lias ad­di­ca­tur aut fi­lius alie­nus pa­tris fa­mi­liae lo­co con­sti­tua­tur. 5Et­iam­si ma­xi­me au­tem pro­bet fi­lium pa­ter in sua po­tes­ta­te es­se, ta­men cau­sa co­gni­ta ma­ter in re­ti­nen­do eo po­tior erit, id­que de­cre­tis di­vi Pii qui­bus­dam con­ti­ne­tur: op­ti­nuit enim ma­ter ob ne­qui­tiam pa­tris, ut si­ne de­mi­nutio­ne pa­triae po­tes­ta­tis apud eam fi­lius mo­re­tur. 6In hoc in­ter­dic­to, do­nec res iu­di­ce­tur, fe­mi­nam, Prae­tex­ta­tum eum­que, qui pro­xi­me Prae­tex­ta­ti ae­ta­tem ac­ce­det, in­ter­im apud ma­trem fa­mi­lias de­po­ni prae­tor iu­bet. pro­xi­me ae­ta­tem Prae­tex­ta­ti ac­ce­de­re eum di­ci­mus, qui pu­be­rem ae­ta­tem nunc in­gres­sus est. cum au­dis ma­trem fa­mi­lias, ac­ci­pe no­tae auc­to­ri­ta­tis fe­mi­nam.

3Ulp. lib. LXXI. ad Ed. Nachher sagt der Prätor: Wenn Lucius Titius in des Lucius Titius Gewalt steht, dass denselben Lucius Titius nicht hinfortführen dürfe, dawider verbiete ich alle Gewaltthätigkeit. 1Die vorhergedachten Interdicte sind solche, die die Auslieferung verfügen, d. h. sie bezwecken die Auslieferung der Kinder und aller übrigen obgedachten Personen; dieses Interdict bezweckt aber die Hinwegführung, damit nemlich Jeder Diejenigen hinfortführen könne, wider die er das Recht der Hinfortführung hat. Das vorherige Interdict über Auslieferung der Kinder ist also ein vorbereitendes für dieses, denn zur Möglichkeit der Fortführung war zuvörderst die Auslieferung nöthig. 2Dieses Interdict ist aus denselben Gründen zu ertheilen, wie wir gesagt haben, dass das wegen Auslieferung der Kinder zuständig sei. Was wir also dort gesagt haben, muss auch hier als gültig verstanden werden. 3Dieses Interdict ist aber nicht wider den Sohn selbst zuständig, den Jemand fortführen will, sondern es muss Jemand vorhanden sein, der ihn wider das Interdict vertheidigt. Ausserdem fällt dasselbe weg, und es kann dann die Erörterung des Prätors erfolgen, sodass vor ihm darüber verhandelt wird, ob Jemand in der Gewalt stehe, oder nicht. 4Julianus sagt, so oft dieses Interdict über die Fortführung eines Kindes erhoben wird, oder eine Erörterung, und das betreffende Kind unmündig ist, so müsse zuweilen die Sache bis zur Zeit der Mündigkeit verschoben, zuweilen aber sogleich verhandelt werden. Dies ist nach der Persönlichkeit Derer, zwischen denen Streit vorhanden ist, und der Beschaffenheit der Sache zu bestimmen. Denn wenn Derjenige, welcher Vater zu sein behauptet, von bekanntem Ansehen, Klugheit und Rechtschaffenheit ist, so kann er den Unmündigen bis zur Zeit des Anfangs des Streites bei sich behalten; wenn Der aber, welcher den Streit erhebt, ein schlechter Mensch, oder von bekannten chicaneusen oder nichtswürdigen Charakter ist, so muss die rechtliche Erörterung sogleich geschehen. Ebensowenig darf der Streit verschoben werden, wenn Derjenige, welcher leugnet, dass der Unmündige sich in eines Andern Gewalt befinde, ein in jeder Hinsicht tadelloser Mann, oder im Testamente, oder vom Prätor zum Vormunde bestellt worden ist, und den Unmündigen, welchen er bis zum Tage des Streites bei sich gehabt, schützt, Der aber11Ich lese und interpungire: quem apud se habuit in diem litis, tuetur, is vero etc., welcher sich für den Vater ausgiebt, als Chicaneur verdächtig ist. Sind beide Personen verdächtig als untüchtig oder schlecht, so wird es nicht unpassend sein, dahin zu verfügen, bei welchem [Dritten] das Kind unterdessen erzogen werden soll, und den Streit bis zur Zeit der Mündigkeit zu verschieben, damit nicht durch bösen Willen oder Unerfahrenheit des Einen von beiden Streitenden, entweder ein Hausvater fremder Gewalt unterworfen, oder ein Haussohn Hausvater werde. 5Wenn aber der Vater auch noch so strenge beweist, dass sich ein Sohn in seiner Gewalt befinde, so wird der Mutter in Ansehung der Zurückbehaltung des Kindes dennoch der Vorzug gegeben; dies ist in den Decreten des Divus22Die Nothwendigkeit, den Begriff Divus nicht völlig übergehen zu dürfen, und die Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Kaiser und Divus, veranlassen mich, in Ermangelung einer passenden Uebersetzung Divus fortan bezubehalten. Pius bestimmt worden; es erhielt es nemlich eine Mutter, wegen Nichtswürdigkeit des Vaters, dass sich der Sohn, unbeschadet der väterlichen Gewalt, bei ihr aufhalten durfte. 6Frauen, Prätextaten33Praetextati heissen die Knaben vom 14. Jahre an, wo sie die toga praetexta, mit dem Purpurstreifen versehn, erhalten. (Pancirol. Thes. var. lect. I. 15. Ed. Lugd. p. 28. und die diesem Alter Zunächststehenden befiehlt der Prätor bei diesem Interdicte einstweilen bei einer Hausmutter in Verwahrung zu geben; den Prätextaten zunächststehend nennt man Den, der das Alter der Mündigkeit soeben angetreten hat. Unter Hausmutter ist eine Frau von tadellosem Rufe zu verstehen.

4Afri­ca­nus li­bro quar­to quaes­tio­num. Si eum, qui se pa­trem fa­mi­lias di­cat, ego in mea po­tes­ta­te es­se et ius­su meo ad­is­se he­redi­ta­tem di­cam, tam de he­redi­ta­te agi opor­te­re quam ad in­ter­dic­tum de fi­lio du­cen­do iri de­be­re ait.

4African. lib. IV. Quaest. Wenn ich behaupte, dass Derjenige, welcher sich für einen Hausvater ausgiebt, in meiner Gewalt stehe, und auf meinen Befehl eine Erbschaft angetreten habe, so muss, sagt er, sowohl die Erbschaftsklage erhoben, als zu dem Interdicte über Abführung des Sohnes geschritten werden.

5Ve­nu­leius li­bro quar­to in­ter­dic­to­rum. Si fi­lius sua spon­te apud ali­quem est, in­uti­le hoc in­ter­dic­tum erit, quia fi­lius ma­gis apud se quam apud eum est, in quem in­ter­di­ce­tur, cum li­be­ram fa­cul­ta­tem ab­eun­di vel re­ma­nen­di ha­be­ret: ni­si si in­ter duos, qui se pa­tres di­ce­rent, con­tro­ver­sia es­set et al­ter ab al­te­ro ex­hi­be­ri eum de­si­de­ra­ret.

5Venulej. lib. IV. Interdict. Wenn sich ein Sohn freiwillig bei einem Andern aufhält, so wird dieses Interdict wirkungslos sein, weil der Sohn vielmehr bei sich selbst, als bei Dem ist, wider den interdicirt wird, indem es ihm freisteht, zu gehen oder zu bleiben, es müsste denn zwischen Zweien, die Väter zu sein behaupten, Streit sein und einer wider den andern die Auslieferung verlangen.