Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Viertes Buch übersetzt von Otto
Dig. IV1,
De in integrum restitutionibus
Liber quartus
I.

De in integrum restitutionibus

(Von den Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand.)

1Ulpianus libro undecimo ad edictum. Utilitas huius tituli non eget commendatione, ipse enim se ostendit. nam sub hoc titulo plurifariam praetor hominibus vel lapsis vel circumscriptis subvenit, sive metu sive calliditate sive aetate sive absentia inciderunt in captionem
1Ulp. lib. XI. ad Ed. Der Nutzen dieses Titels bedarf keiner Anpreisung, denn er11Dieses er müsste dem Texte nach, da sich durchgängig die Lesart ipse findet, nicht auf das Wort Nutzen, sondern auf Titel bezogen werden. zeigt sich selbt. Unter diesem Titel nämlich kommt der Prätor auf mehrfache Weise [in Irrthum] gefallenen oder beeinträchtigten Menschen zu Hülfe, sie mögen durch Furcht, oder Liest, oder [unmündigen] Alters oder Abwesenheits halber in Nachtheil verfallen sein,
2Paulus libro primo sententiarum. sive per status mutationem aut iustum errorem.
2Paul. lib. I. Sentent. oder wegen Veränderung ihres Rechtszustandes (status), oder aus unverschuldetem Irrthum.
3Modestinus libro octavo pandectarum. Omnes in integrum restitutiones causa cognita a praetore promittuntur, scilicet ut iustitiam earum causarum examinet, an verae sint, quarum nomine singulis subvenit.
3Modestin. lib. VIII. Pandect. Alle Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand22In integrum restitutio ist im Allgemeinen ein ausserordentliches Rechtsmttel, vermöge dessen eine Person in ihre frühere Rechtslage zurückversetzt wird. Paulus sagt Sent. recept. lib. I. tit. VII. c. 1. integri restitutio est redintegrandae rei vel causae actio. werden vom Prätor nach vorgängiger Untersuchung der Ursache versprochen, so dass er nämlich die Rechtmässigkeit derjenigen Ursachen, [und] ob sie wahr sind, untersucht, aus welchen er Einzelnen zu Hilfe kommt.
4Callistratus libro primo edicti monitorii. Scio illud a quibusdam observatum, ne propter satis minimam rem vel summam, si maiori rei vel summae praeiudicetur, audiatur is qui in integrum restitui postulat.
4Callistrat. lib. I. Ed. Monitorii. Ich weiss, dass es von Einigen in Obacht genommen wird, es solle wegen einer gar zu geringen Sache oder Summe, wenn dabei eine grössere Sache oder Summe beeinträchtiget werde, derjenige nicht gehört werden, welcher wieder in den vorigen Stand eingesetzt zu werden verlangt.
5Paulus libro septimo ad edictum. Nemo videtur re exclusus, quem praetor in integrum se restituturum polliceatur.
5Paul. lib. VII. ad Ed. Ad Dig. 4,1,5 pr.ROHGE, Bd. 14 (1875), Nr. 40, S. 110: Vermengung verschiedener Pfandobjecte desselben und verschiedener Gläubiger.Niemand ist für ausgeschlossen von seinem Eigenthume [oder Klagrechte33Es erklärt nämlich Dion. Gothofredus hier re durch rei actione.] zu halten, welchem der Prätor Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verspricht44Die Lesart pollicetur, welche auch Beck hat, scheint besser als polliceatur..
6Ulpianus libro tertio decimo ad edictum. Non solum minoris, verum eorum quoque, qui rei publicae causa afuerunt, item omnium, qui ipsi potuerunt restitui in integrum, successores in integrum restitui possunt, et ita saepissime est constitutum. sive igitur heres sit sive is cui hereditas restituta est sive filii familias militis successor, in integrum restitui poterit. proinde et si minor in servitutem redigatur vel ancilla fiat, dominis eorum dabitur non ultra tempus statutum in integrum restitutio. sed et si forte hic minor erat captus in hereditate quam adierit, Iulianus libro septimo decimo digestorum scribit abstinendi facultatem dominum posse habere non solum aetatis beneficio, verum et si aetas non patrocinetur: quia non apiscendae hereditatis gratia legum beneficio usi sunt, sed vindictae gratia.
6Ulp. lib. XIII. ad Ed. Nicht allein eines Minderjährigen, sondern auch derjenigen, welche des Staates wegen abwesend waren, desgleichen aller derer, welche selbst die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangen konnten, Nachfolger können in den vorigen Stand wieder eingesetzt werden; so ist es sehr oft festgesetzt worden. Es mag also der Erbe sein, oder der, welchem die Erbschaft [vom Erben] ausgehändigt worden ist, oder der Nachfolger eines Sohnes, welcher Soldat war, so wird er in den vorigen Stand wieder eingesetzt werden können. Hiernächst wird auch, wenn eine minderjährige Person in die Sclaverei gerathen oder Sclavin werden sollte, den Herren derselben die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, jedoch nicht über die festgesetzte Zeit hinaus55Non tamen ultra tempus statutum nach der Ausgabe von Beck., gegeben werden. Aber auch, wenn etwa eine solche minderjährige Person66Dieser Ausdruck ist zu gebrauchen, weil hier auch das weibliche Geschlecht in Berücksichtigung kommt. hinsichtlich der Erbschaft, die sie angetreten hat, in Nachtheil versetzt worden ist, kommt dem Herrn derselben, wie Julianus im 17. Buche der Digesten schreibt, die Befugniss, sich von der Erbschaft loszusagen, nicht allein vermöge der Begünstigung des [unreifen] Alters [jener Person], sondern auch selbst dann zu, wenn dieses Alter keine Begünstigung gewährte, weil sie [die Herren] von der Begünstigung durch die Gesetze [in diesem Falle] nicht zur Erlangung der Erbschaft, sondern zur Bestrafung [der Undankbarkeit77Es ist nämlich nach den Auslegern hier an den Fall zu denken, wo eine freigelassene Person wegen Undankbarkeit gegen ihren Freilasser in die Sclaverei zurückfällt (cf. const. 2. Cod. de libertis et eorum liberis VI. 7.)], Gebrauch gemacht haben.
7Marcellus libro tertio digestorum. Divus Antoninus Marcio Avito praetori de succurrendo ei, qui absens rem amiserat, in hanc sententiam rescripsit: ‘Etsi nihil facile mutandum est ex sollemnibus, tamen ubi aequitas evidens poscit, subveniendum est. itaque si citatus non respondit et ob hoc more pronuntiatum est, confestim autem pro tribunali te sedente adiit: existimari potest non sua culpa sed parum exaudita voce praeconis defuisse, ideoque restitui potest.’ 1Nec intra has solum species consistet huius generis auxilium: etenim deceptis sine culpa sua, maxime si fraus ab adversario intervenerit, succurri oportebit, cum etiam de dolo malo actio competere soleat, et boni praetoris est potius restituere litem, ut et ratio et aequitas postulabit, quam actionem famosam constituere, ad quam tunc demum descendendum est, cum remedio locus esse non potest.
7Marcell. lib. III. Digest. Der höchstselige Antoninus hat an den Prätor Marcius Avitus rücksichtlich des demjenigen, welcher in seiner Abwesenheit Vermögensverlust erlitten hat, zu leistenden Beistandes ein Rescript des Inhalts erlassen: Obschon an den [einmal festgesetzten] Formalitäten nicht leicht etwas zu ändern ist, so muss man doch da, wo es eine augenscheinliche Billigkeit verlangt, zu Hülfe kommen; demnach kann, wenn der vor Gericht Geladene [auf die Klage] nicht geantwortet hat und deshalb gegen ihn nach hergebrachter Weise gesprochen worden ist, er aber sogleich an dich, da du noch auf dem Tribunal sassest, sich wendete, angenommen werden, dass er nicht aus eigener Fahrlässigkeit, sondern wegen nicht vernommener Stimme des Herolds (Vorladers), aussen geblieben sei; und aus diesem Grunde kann er in den vorigen Stand wieder eingesetzt werden. 1Ad Dig. 4,1,7,1Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl. 1891, Bd. I, § 118, Note 6.Es beschränkt sich aber eine solche Hülfeleistung nicht auf diese Fälle; vielmehr wird auch den ohne eigene Schuld Betrogenen, zumal wenn der Betrug vom Gegner ausgegangen sein sollte, Beistand geleistet werden müssen, da ja auch [für diesen Fall] die actio de dolo malo Statt zu finden pflegt. Auch kommt es einem guten Prätor mehr zu, den Rechtsstreit wieder in seine frühere Lage zu versetzen, wie es nicht nur die Vernunft, sondern auch die Billigkeit88Et ratio et aequitas. Ratio könnte hier vielleicht durch strenge Rechtsansicht, aequitas durch Billigkeitsgefühl übersetzt werden. verlangen wird, als eine infamirende Klage zu gewähren, zu welcher man sich erst dann herablassen muss, wenn ein [anderes] Hülfsmittel nicht Platz ergreifen kann.
8Macer libro secundo de appellationibus. Inter minores viginti quinque annis et eos qui rei publicae causa absunt hoc interest, quod minores annis etiam qui per tutores curatoresve suos defensi sunt, nihilo minus in integrum contra rem publicam restituuntur, cognita scilicet causa: ei vero qui rei publicae causa absit, ceteris quoque qui in eadem causa habentur, si per procuratores suos defensi sunt, hactenus in integrum restitutione subveniri solet, ut appellare his permittatur.
8Macer. lib. II. de Apellat. Zwischen solchen, die noch nicht 25 Jahre alt sind, und den des Staates wegen Abwesenden findet der Unterschied Statt, dass jene Minderjährigen, [und zwar] selbst diejenigen unter ihnen, die durch Vormünder oder Curatoren vertheidigt worden sind, nichts desto weniger gegen den Staat99Contra rempublicam, d. h. im Widerspruche eigentlich mit denjenigen Rechtsvorschriften, welche der römische Staat für ähnliche Fälle als Regel aufgestellt hat. in den vorigen Stand wieder eingesetzt werden, nämlich nach Untersuchung der Ursache; demjenigen aber, welcher des Staats wegen abwesend ist, wie auch den Uebrigen, die als in derselben Lage befindlich angesehen werden, wenn sie durch ihre Procuratoren vertheidigt worden sind, in soweit durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Hülfe geleistet zu werden pflegt, dass ihnen zu appelliren gestattet wird.