Corpus iurisprudentiae Romanae

Repertorium zu den Quellen des römischen Rechts

Digesta Iustiniani Augusti

Recognovit Mommsen (1870) et retractavit Krüger (1928)
Deutsche Übersetzung von Otto/Schilling/Sintenis (1830–1833)
Zweites Buch übersetzt von Heimbach unter Redaction von Otto
Dig. II7,
Ne quis eum qui in ius vocabitur vi eximat
Liber secundus
VII.

Ne quis eum qui in ius vocabitur vi eximat

(Dass Niemand den, welcher vor Gericht berufen wird, mit Gewalt entreisse.)

1Ulpianus libro quinto ad edictum. Hoc edictum praetor proposuit, ut metu poenae compesceret eos, qui in ius vocatos vi eripiunt. 1Denique Pomponius scribit servi quoque nomine noxale iudicium reddendum, nisi sciente domino id fecit: tunc enim sine noxae deditione iudicium suscipiet. 2Ofilius putat locum hoc edicto non esse, si persona, quae in ius vocari non potuit, exempta est, veluti parens et patronus ceteraeque personae: quae sententia mihi videtur verior. et sane si deliquit qui vocat, non deliquit qui exemit.
1Ulp. lib. V. ad Edictum. Dieses Edict hat der Prätor öffentlich bekannt gemacht, um durch die Frucht vor Strafe die zu beschwichtigen, welche vor Gericht Berufene mit Gewalt entreissen. 1Ja, es schreibt Pomponius, dass auch im Betreff eines Sclaven eine Noxalklage zu verstatten sei, er müsste es denn mit Wissen seines Herrn gethan haben; denn in diesem Falle wird dieser ohne mögliche Auslieferung dessen, welcher den Schaden zugefügt, auf die Klage antworten. 2Ofilius glaubt, dass dies Edict keine Wirkung habe, wenn eine Person, die nicht vor Gericht berufen werden konnte, entrissen worden ist, z. B. Eltern und Freilasser und die übrigen hierher gehörigen Personen. Diese Meinung scheint mir die richtigere zu sein, und allerdings, wenn der gefehlt hat, welcher beruft, hat nicht der gefehlt, welcher entrissen hat.
2Paulus libro quarto ad edictum. Nam cum uterque contra edictum faciat, et libertus qui patronum vocat, et is qui patronum vi eximat: deteriore tamen loco libertus est, qui in simili delicto petitoris partes sustinet. 1Eadem aequitas est in eo, qui alio quam quo debuerat in ius vocabatur: sed et fortius dicendum est non videri vi eximi eum, cui sit ius ibi non conveniri.
2Paul. lib. IV. ad Edictum. Denn handeln gleich beide gegen das Edict, sowohl der Freigelassene, der den Freilasser beruft, als auch der, welcher den Freilasser mit Gewalt entreisst, so ist doch der Freigelassene, der bei gleicher Schuld die Rolle des Klägers spielt, im Nachtheile. 1Mit derselben Billigkeit verfährt man auch gegen den, welcher anderswohin, als er durfte, vor Gericht gerufen wurde, und man muss bestimmt sagen, dass der nicht mit Gewalt entrissen zu werden schiene, welcher das Recht habe, nicht zu leiden, dass man ihn hier verklage.
3Ulpianus libro quinto ad edictum. Quod si servum quis exemit in ius vocatum, Pedius putat cessare edictum, quoniam non fuit persona, quae in ius vocari potuit. quid ergo? ad exhibendum erit agendum. 1Si quis ad pedaneum iudicem vocatum quem eximat, poena eius edicti cessabit. 2Quod praetor praecepit ‘vi eximat’: vi an et dolo malo? sufficit vi, quamvis dolus malus cesset.
3Ulp. lib. V. ad Edictum. Hat Jemand einen vor Gericht berufenen Sclaven entrissen, so glaubt Pedius, dass das Edict ohne Wirkung sei, weil er keine Person war, die vor Gericht berufen werden konnte. Was aber thun? man wird auf Herausgabe desselben (ad exhibendum) klagen müssen. 1Entreisst Jemand den vor einen Richter, welcher nur delegirte Gerichtsbarkeit ausübt, Geladenen, so wird die Strafe des Edicts keine Anwendung leiden. 2Was der Prätor vorgeschrieben hat, mit Gewalt entreisse, anbelangend, so entsteht die Frage, ob Gewalt hinreiche oder auch böser Vorsatz da sein müsse? Gewalt reicht hin, wenn auch der böse Vorsatz fehlt.
4Paulus libro quarto ad edictum. Sed eximendi verbum generale est, ut Pomponius ait. eripere enim est de manibus auferre per raptum: eximere quoquo modo auferre. ut puta si quis non rapuerit quem, sed moram fecerit quo minus in ius veniret, ut actionis dies exiret vel res tempore amitteretur: videbitur exemisse, quamvis corpus non exemerit. sed et si eo loci retinuerit, non abduxit, his verbis tenetur. 1Item si quis eum, qui per calumniam vocabatur, exemerit: constat eum hoc edicto teneri. 2Praetor ait ‘neve faciat dolo malo, quo magis eximeretur’: nam potest sine dolo malo id fieri, veluti cum iusta causa est exemptionis.
4Paul. lib. IV. ad Edictum. Aber der Audruck entreissen (eximere) ist allgemein, wie Pomponiussagt; denn wegreissen (eripere) heisst Jemandem durch Raub aus den Händen etwas wegnehmen; entreissen aber auf jede Art wegnehmen; z. B. wenn Jemand den Andern nicht weggerissen, aber doch so lange sein Gehen ins Gericht verzögert hat, dass der Klagtermin verstrich, oder der Gegenstand durch die Zeit verloren ging, so wird man annehmen, dass er entrissen habe, obgleich er den Körper selbst nicht entrissen hat. Aber auch, wenn er ihn an einem Orte zurückgehalten, nicht aber dahin abgeführt hat, verfällt er diesen Worten. 1Ingleichen, wenn Jemand den, welcher aus Chicane berufen wurde, entrissen hat, verfällt er gewiss diesem Edicte. 2Der Prätor sagt: und nicht aus bösem Vorsatz so handle, dass er entrissen werde; denn es kann auch ohne böse Absicht geschehen, z. B. wenn eine Ursache des Entreissens Statt findet.
5Ulpianus libro quinto ad edictum. Si per alium quis exemerit, hac clausula tenetur, sive praesens fuit sive absens. 1In eum autem, qui vi exemit, in factum iudicium datur: quo non id continetur quod in veritate est, sed quanti ea res est ab actore aestimata, de qua controversia est. hoc enim additum est, ut appareat etiam si calumniator quis sit, tamen hanc poenam eum persequi. 2Docere autem debet quis per hanc exemptionem factum quo minus in ius produceretur. ceterum si nihilo minus productus est, cessat poena: quoniam verba cum effectu sunt accipienda. 3Hoc iudicium in factum est: et si plures deliquerint in singulos dabitur, et nihilo minus manet qui exemptus est obligatus: 4Heredibus autem ita dabitur, si eorum intersit: neque autem in heredem neque post annum dabitur.
5Ulp. lib. V. ad Edictum. Hat Jemand Einen vermittelst eines Dritten entrissen, so verfällt er diesen letzten Worten, er mag gegenwärtig oder abwesend gewesen sein. 1Gegen den aber, welcher mit Gewalt entriss, wird eine Klage in factum verstattet, in der nicht das zu Sprache kommt, was in Wahrheit besteht, sondern die Summe, auf welche die streitige Sache vom Kläger gewürdert worden: dies nämlich ist hinzugefügt, damit klar sei, selbst wenn er ein Chicaneur ist, könne er doch zur Erlegung dieser Strafe zwingen. 2Man muss jedoch beweisen, dieses Entreissen sei daran Schuld, dass man nicht ins Gericht geführt worden sie: sonst findet die Strafe nicht Statt, weil die Worte von der Wirkung verstanden werden müssen. 3Diese Klage ist in factum, und wird auch gegen Einzelne verstattet werden, wenn Mehrere gefehlt haben. Und nichts desto weniger bleibt doch der Entrissene verbindlich. 4Erben wird sie aber nur dann gestattet werden, wenn sie Interesse an der Sache haben; aber gestattet wird sie nicht, weder gegen den Erben, noch nach Ablauf von Jahresfrist.
6Idem libro trigensimo quinto ad edictum. Is qui debitorem vi exemit, si solverit, reum non liberat, quia poenam suam solvit.
6Idem lib. XXXV. ad Edictum. Der, welcher einen Schuldner mit Gewalt entrissen hat, befreit den Beklagten durch Zahlung nicht, weil er nur seine eigene Strafe erlegt.